«Ich bleibe lieber ganz frei»

Auch mit 72 sagt der weltbekannte Harfenist: «Es gibt keine schönere Zeit als auf Tournee.» Sein Ziel: die Menschen ermutigen, ihren inneren Reichtum zu entdecken.

Henry wittert seine Chance: Sein ­Besitzer, der Harfenist Andreas ­Vollenweider (wurde soeben 72), posiert gerade im Rosengarten für Fotos. Flink gelingt es dem kleinen weissen Hund, trotz des Zauns in den Nachbarsgarten zu schleichen, wo eine interessante Hunde­dame lebt. Doch nur kurz. Obwohl er nicht besonders gut gehorcht, schafft es Vollenweider, den Ausreisser wieder zurück über den Zaun zu hieven.

Der Rosengarten gehört zum Rokpa-Haus im Zürcher Quartier Hottingen. Seit bald vierzig Jahren, also fast gleich lang, wie Vollenweider schon auf der ganzen Welt erfolgreich als Musiker unterwegs ist, engagiert er sich als Vorstand und Aktivist für das Hilfswerk Rokpa, das von der Welt vergessene Kinder in Nepal, Simbabwe und Südafrika unterstützt.

«Geh in die Caverna Magica»

Aktuell tourt seine Band «Andreas ­Vollenweider and Friends» durch Europa. Auch in Bern steht ein Konzert an. Der ­Titel der Tournee: «Caverna Magica – revisited». Musikalisch ist sie angelehnt an das gleichnamige Album, das 1983 weltweit ein Erfolg wurde. Im Namen steckt eine Botschaft, die Vollenweider wichtig ist: «Viele Menschen warten auf eine Rettung von aussen, eine externe Instanz, die unsere Probleme lösen kann, die uns kontrolliert und uns bestraft, wenn wir Fehler machen. Das ist eine schrecklich naive Vorstellung.» Entscheidend sei, was in uns Menschen drinstecke, in unserer verborgenen Höhle, eben in ­unserer «Caverna Magica»: «Meine ­Botschaft lautet: Geh tief da hinein, und da findest du alles, was du brauchst. Dort weisst du sehr genau, was gut und was schlecht ist. Und hier kann dir Musik eben helfen, deine Höhle zu finden.»

Es erstaunt nicht, dass sich Andreas ­Vollenweider keiner Religion zugehörig fühlt: «Ich bleibe lieber ganz frei», sagt er. Sein Leben lang folgte er lieber den Pfaden, die ihm sein Herz zeigte. Das begann schon als Kind: «Die Schule war für mich der ultimative Albtraum. Mein wirkliches Leben war so viel spannender und lehrreicher.»

Seine Kindheit war voller Musik und Fantasie: Der Vater war Organist am Zürcher Grossmünster und lebte voll und ganz in der Musik. Für seine Kinder war er fast nur über das gemeinsame Musizieren zugänglich, während die spirituell interessierte Mutter den Kindern Geschichten über die Geheimnisse des Lebens erzählte.

Dank der vielen Instrumente im Haus Vollenweider begann Andreas Vollen­weider früh, am Klavier, an der Gitarre oder mit verschiedenen Blasinstrumenten zu improvisieren. Konven­tioneller Musik­unterricht war nichts für ihn, er musste auch hier ­seinen Weg selber finden. «Als mir meine Mutter einmal von ­einer Englandreise eine Platte mit Harfen­musik brachte, hörte ich Klänge, die mich sehr berührten. Das war ganz nahe an dem Klang, nach dem ich so lange gesucht hatte.»

Von der «Riviera» in die Welt hinaus

Sein Weg führte an einem Schul- oder Lehrabschluss vorbei. Er folgte konsequent ­seinen eigenen Ideen. Heute würde die Kindes- und Erwachsenen-Schutzbehörde sofort einschreiten, ist er überzeugt. Doch Vollenweider tauchte schon als 16-Jähriger in die bunte Welt der sogenannten «­Riviera» an der Zürcher Limmat. Es waren die ­wilden und freien 70er-Jahre.

Während andere in jener Zeit in die ­Drogen abstürzten, fand Andreas Vollenweider Gleichgesinnte, um nach neuen musikalischen Sphären zu forschen. Einige sind seit Jahrzehnten an seiner Seite: «­Walter Keiser ist seit 45 Jahren mein Herzschrittmacher», sagt er über seinen Schlagzeuger. Mit ihm spielt Vollenweider auf der ganzen Welt in den renommiertesten Konzert­häusern. Es gab auch immer ­wieder gemeinsame Projekte mit Musikerinnen und Musikern aus anderen musikalischen Welten wie Zucchero (70) oder Luciano ­Pavarotti (1935–2007).

Besonders viele Fans haben «Vollen­weider and Friends» seit Anfang der 80er-Jahre in Südafrika: «Wir sind erst kürzlich wieder dort aufgetreten, vor enorm ­grossem Publikum, das fast alle Lieder aus ­voller Kehle mitgesungen hat.» Die Menschen hätten spontan eigene Texte zu den Songs kreiert, die sie damals in ­ihrem Kampf gegen die Apartheid an­feuerten.

Als einziger Schweizer Musiker hat ­Andreas Vollenweider 1987 mit dem Album «Down to the Moon» einen Grammy ­gewonnen, zwei weitere Male wurde er für den weltweit wichtigsten Musikpreis nominiert. «Die Wirkung dieses Preises war schon auch hilfreich», sagt er heute, aber für sie alle sei die Anerkennung durch das Publikum viel wichtiger gewesen.

Zu diesem gehören inzwischen sogar Frühgeborene. Seit 2014 wirkt Vollen­weider bei einem wissenschaftlichen Projekt mit, bei dem zu früh geborene Babys speziell komponierte Klänge zu hören bekommen. «Die Resultate der Studie sind absolut umwerfend», sagt er.

Neues Buch

1970 lernte Andreas Vollenweider als Teenager an der Zürcher «Riviera» seine Frau Beata kennen. Die Kindergärtnerin begleitete ihn auf den Tourneen, bis ihre Kinder kamen. Heute sind sie Eltern von zwei Söhnen und einer Tochter sowie ­zweifache Grosseltern. Sie leben mit Hund Henry in Zürich und im Kanton Luzern.

2020 erschien Vollenweiders erster ­Roman «Im Spiegel der Venus». «Das Buch hat durchaus einige autobiografische ­Stellen, ist aber eigentlich eine fiktive ­Geschichte», sagt er. Nun arbeitet er bereits an einem weiteren Buch. Der Harfenist möchte die Menschen ermutigen, ihren ­inneren ­Reichtum zu entdecken, der in ­jedem Menschen stecke: «Ich glaube an die Befreiung dieses Reichtums, nicht an Begabung oder Talent.»

Weil er bestrebt ist, ganz im Hier und Jetzt zu leben, bereitet ihm das Älterwerden keine Angst. Unerfüllte Träume habe er ­keine, denn er habe das Glück, seinen Traum leben zu können.

Andreas Vollenweider freut sich darauf, wieder musikalisch unterwegs zu sein. Er sagt: «Es gibt keine schönere Zeit als auf Tournee.» Niemand wolle etwas von ­einem, man müsse einfach am Abend «gut aussehen und gut spielen», sagt er ­ironisch lachend. Deshalb wolle er so weiter­machen, bis er umfalle. «Und dann ist vielleicht fertig.»