«Heute wirst du fast raufgetragen»

Vor 70 Jahren waren die ersten Menschen auf dem Dach der Welt. Die Bergsteiger-Legende stand zweimal oben. Inzwischen interessiert ihn der Mount Everest nicht mehr – es sei dort zu touristisch geworden.

Erst gaben sie sich förmlich die Hand, dann umarmten sie sich, und Tenzing fiel auf die Knie, um Schokolade und andere Süssigkeiten im Schnee zu verbuddeln. Als Dank an die Götter. Sie hatten es geschafft: Edmund Hillary (1919–2008) und Tenzing Norgay (1914–1986) standen auf dem «Dach der Welt». 

Vor genau 70 Jahren also, am 29. Mai 1953, erreichte der 190 cm grosse, schlaksige Bienenzüchter, Bergsteiger und später zum «Sir» geadelte Neuseeländer mit dem nepalesisch-indischen Sherpa den Gipfel des Mount Everest. Als offiziell erste Menschen überhaupt und unter der Flagge Grossbritanniens. «Eine unvergleichliche Leistung, die insbesondere einer Gabe von Hillary zu verdanken ist – der Gabe, es zu wagen», sagt Bergsteigerlegende Reinhold Messner (78) im Gespräch mit der GlücksPost.

Der Clou: Hillary war nur zweite Wahl im Team gewesen. Die Briten hatten die Besteigung seit den 1920er-Jahren immer wieder versucht und viel Geld in dieses Ziel gesteckt. Messner schmunzelt: «Es war klar eine britische Expedition, ohne deren Mittel und Organisation wäre das nicht möglich gewesen. Dass am Ende aber dieser Neuseeländer und ein Sherpa, der weder lesen noch schreiben konnte, als Erste auf dem Gipfel standen, war nicht geplant.»

Vielmehr sollten Charles Evans und Tom Bourdillon den Coup landen, doch das Duo musste drei Tage zuvor aufgeben, weil ihm der Sauerstoff ausgegangen war. «Die Briten standen unter einem enormen Druck», erzählt der 78-Jährige weiter. «Sie wollten am Nord- und Südpol schon die Ersten sein und mussten sich geschlagen geben. Am Everest musste es also einfach klappen!»

Nicht zuletzt die Expedition des Schweizers Raymond Lambert 1952 machte die Engländer nervös. Denn der Genfer war sehr weit gekommen. An seiner Seite: Tenzing Norgay. Der bekam dann erneut eine Chance – und packte sie. «Wir haben den Bastard geschafft!», sollen der Legende nach die ersten Worte von Edmund Hillary gewesen sein, nachdem sie zurückgekehrt waren. Danach gab es erst mal eine heisse Suppe sowie etwas Tee.

Ziemlich genau 25 Jahre später, am 8. Mai 1978, waren es der damals 33-jährige Reinhold Messner sowie der zwei Jahre ältere Österreicher Peter Habeler (heute 80), die Geschichte schrieben: Sie erreichten den Gipfel als erste Menschen ohne die Hilfe von Flaschensauerstoff. Messner wiederholte dies rund zwei Jahre später noch einmal – im Alleingang. Auf die Frage, mit welchen Gefühlen er an all das zurückdenkt, antwortet er, ohne gross zu überlegen, in seinem typischen Südtiroler Dialekt: «Das ist überhaupt nicht präsent. Ich denke nicht alle Tage, dass ich auf dem Everest oben war.»

Vielmehr beschäftige er sich mit dem Hier und Jetzt, etwa mit der Eröffnung eines Sherpa-Museums am Fusse des Everests, das er zum Jahrestag initiiert und aufgebaut hat. «Wie bringen wir vorher noch ein sehr grosses Bild von Kathmandu ins Museum? Wo hängen wir es auf?», beschreibt er die Fragen, die ihn derzeit umtreiben.

Alles andere rund um den Mount Everest interessiere ihn nicht – «nicht mehr», präzisiert er. Er habe aufgehört, damit zu hadern. «Aber ich benenne deutlich, was es ist: Tourismus. Punkt.» Die Details dazu: 1000 Zelte im Basislager, auf Wunsch mit Sauna, daneben fünf Helikopterlandeplätze. «Und auf den Berg rauf wirst du schon fast getragen.»

Sei’s drum, meint Messner trocken, die Leute hätten sich das selbst eingebrockt. «Nochmals: Der Everest ist Tourismus. Heute gehen sie auf den Berg, morgen fliegen sie mit Elon Musk ins All.» Aber haben nicht gerade Expeditionen wie die seinen zu dieser Entwicklung beigetragen? Messner winkt ab: «Es ist eher umgekehrt. Als der Peter und ich ohne Sauerstoff raufgingen, haben wir vorgelebt, dass es auch anders geht, noch minimalistischer.» 

Leider sei nicht diese Reduzierung aufs Nötigste kopiert worden, im Gegenteil: Angestrebt wurde die totale Kommerzialisierung. «Was aber stimmt: Durch uns wurde der Berg erneut zum grossen Thema.»

Schwingt in seinen Worten eine gewisse Wehmut mit? «Nein, ich konnte meine Form von Alpinismus am Everest noch ausleben, was ich als grosses Glück empfinde.» Klar, wäre es heute möglich, andere, schwierigere Routen zu suchen, aber auf dem Gipfel treffe man ja wieder auf die ganze Masse. «Da kann der Berg nix dafür», meint Reinhold Messner lakonisch. «In dem Moment, wo die Menschen ausbleiben, ist der Everest sofort wieder der Everest.»