Für seine Familie bleibt kaum Zeit

In der anhaltenden Coronakrise ist unser Gesundheitsminister zum Landesvater geworden. Das hat ­seinen Preis: Vor lauter Arbeit kommen seine Liebsten nun häufig zu kurz. Teilweise sieht er sie wochenlang nicht.

In der Krise beweist sich der Charakter, sagte einst Deutschlands Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt († 2015). Ein Bonmot, wie gemacht für unseren Innenminister. Seit acht Jahren ist Alain Berset im Bundesrat. Un­auffällig und pflichtbewusst führte er bisher sein Amt.

Doch nun ist die Welt eine andere. Seit die Pandemie unser Leben beherrscht, führt Berset das verunsicherte Volk mit einer bewundernswerten Ruhe in die ungewisse Zukunft. In einer Krise braucht es jemanden, der die Führung übernimmt. Das hat der 47-Jährige ganz selbstverständlich getan. Und der Grossteil der Bevölkerung akzeptiert den bescheidenen Leader. Weil er ehrlich ist, was die Sachlage anbetrifft: Was er sagt, entspricht dem aktuellen Wissensstand. Er malt weder den Teufel an die Wand, noch verspricht er Wunder. Und lässt es sich auch nicht nehmen, an der gefühlt hundertsten Pressekonferenz immer mal wieder mit einem Spruch die Stimmung aufzulockern. Sein linker Mundwinkel ist oft leicht nach oben gezogen zu einem angedeuteten Lächeln.

Er und der Gesamtbundesrat vertrauen darauf, dass die Bevölkerung die zurzeit einzigen, als wirksam geltenden Mittel gegen Corona umsetzt: Social Distancing, Hygiene und zu Hause bleiben. Das zeugt von einem Glauben an das Volk, den Karren gemeinsam aus dem Dreck ziehen zu wollen. Eine zutiefst schweizerische Haltung, die auf breite Zustimmung stösst.

Besonders, wenn der SP-Politiker, der schon sein Leben lang in Belfaux FR lebt, vom Helden zum Menschen wird und darüber spricht, wie es ihm selbst in dieser Ausnahmesituation ergeht. «Wissen Sie, ich bin zurzeit fast ständig im Büro», erzählt er bei einer Live-Schaltung ins SRF-Studio an einem Samstagabend Ende März. «Ich bin auch jetzt noch im Büro.»

Im Frühling sei er nur sehr wenig zu Hause gewesen. «Wir haben mit der ganzen Equipe ständig nur gearbeitet – während Monaten. Die ersten sechs, sieben Wochen, also im März und April, waren wirklich brutal.» Nachdem Covid-19 unser Land überrollt hatte, sah der Gesundheitsminister seine Frau Muriel (47) und die Kinder Antoine (17), Achille (15) und Apolline (13) eineinhalb Monate kein einziges Mal. Erst zu seinem Geburtstag am 9. April gönnte er sich drei Tage zu Hause. Nur, um am Ostersonntag wieder ins Büro zu hetzen.

Dabei ist ihm seine Familie sehr wichtig. Über seine Frau, Literatur­wissenschaftlerin und Kunst­malerin, sagt er: «Ohne ihre Unterstützung wäre ich nie so weit gekommen.» Ein Kollege von Muriel Zeender Berset beschreibt die beiden als «das typische Paar der jüngeren Nach-68er-Generation: mit partnerschaftlicher Arbeits­teilung im Haus und im Beruf». Bei Besuchen im Hause Berset habe er gestaunt, wie selbstverständlich sich Alain Berset um die Kinder und den Haushalt gekümmert habe, während Muriel eine Besprechung hatte.

Trotz Mehrarbeit versucht der Magistrat, so viel wie möglich mit seinen Liebsten zu unternehmen. Bersets gehen gerne Bowlen oder ins Kino. Im Sommer verbrachten sie ein bisschen Zeit im Tessin im «Holiday-Office», wie er es nennt. Ganz von der Politik abschalten könne er dabei nicht: «Meine Kinder interessieren sich immer mehr für meinen Job – und stellen natürlich Fragen.»

Zeit für seinen Freundeskreis bleibt ihm so gut wie gar keine: «Ich glaube, die letzte Gelegenheit war im Sommer mit der Familie. Viele Kontakte, die ich sehr schätze, habe ich schon sehr lange überhaupt nicht gesehen», sagte er vor zwei Wochen in einem Video-­Interview mit Comedian und Moderator Stefan Büsser. Sein Umfeld unterstütze ihn aus der Ferne «per SMS und so».

An eine Ausübung seiner Hobbys ist erst recht nicht zu denken. Berset ist passionierter Pianist – als 19-Jähriger durchquerte er allein Südamerika und verdiente sich das Reisegeld unter anderem als Barpianist in Brasilien. Auch der Laufsport ist für den einstigen Westschweizer-Meister über 800 Meter eine liebgewonnene Freizeitbeschäftigung. «Sport ist die beste Lebensschule», ist er überzeugt. «Man lernt, sich ein Ziel zu setzen und alles zu tun, um es zu erreichen.»

Aber eben: Mit seiner Work-­Life-Balance sieht es gar nicht gut aus in diesem Jahr, vertraut er Büsser weiter an. Immerhin könne er sehr gut schlafen, was wichtig sei. «Aber ich muss ge­stehen, es ist viel zu wenig im Moment.» Die Familienferien im Tessin endeten mit einer Rückfahrt nach Belfaux über Zürich, um sich dort der Presse zu stellen – das Bundesamt für Gesundheit hatte falsche Daten publiziert. Berset nahm der medialen Entrüstung schnell den Wind aus den Segeln: «Ich bin kein Pandemie-Experte, das ist meine erste, und wir müssen stets Neues dazulernen. Es gab und gibt Momente, in denen unsere Leute am Anschlag sind.» Auch er komme immer wieder an seine Grenzen. «Schliesslich sind wir alle nur Menschen und leben jeden Tag mit dieser Unsicherheit.»

Solche Aussagen macht Berset wohlbemerkt nie im Unter­ton des Jammerns oder Klagens. «Das ist normal, wir sind dafür da», ist seine sachliche Meinung. Lieber macht er den Menschen Hoffnung. Auf nächstes Jahr, in dem ein wirksamer Impfstoff bereit stehen soll. 13 Millionen ­Dosen hat er bereits für die Schweiz reserviert. «Dann kann 2021 wirklich zu einer Art Erholungsjahr werden.» Nicht nur für die Be­völkerung, sondern auch für den scheinbar unermüdlichen Krisenminister.