«Es hat mich aus meinem alten Leben katapultiert»

Schwierige Zeiten kennt der Radio- und einstige «Club»-Moderator. Der Hirnschlag, den er 2016 erlitt, war aber schlimmer als alles andere. Ein Horror, der noch nicht ganz vorbei ist.

Er sitzt auf einem kleinen Schemel in seiner Wohnung und sucht nach Worten. Nicht, weil sie ihm abhanden gekommen sind, sondern weil es schwierig ist, das Erlebte in Worte zu fassen. Thomy Scherrer: TV-Moderator, Radiostimme, Vater, Ehemann, Hobby-Musiker. Und seit gut einem Jahr Hirnschlag-Patient.

Davon erzählt der 57-Jährige – sachlich, wütend, nachdenklich, aufgewühlt. Auch seine Frau Marie-Anne (60) und Tochter Lyn (26) sind dabei. «Das Verrückte ist, dass ich nicht einmal ihnen gegenüber genau fassbar machen kann, wie ich mich fühle», sagt er. «Ich suche nach Bildern, um es zu erklären: Stellt euch vor, ihr müsstet euch konzentrieren, um zu atmen. So geht es mir mit dem Denken.»

Das kostet Energie – und genau die hat ihm der Hirnschlag geraubt. Innert weniger Sekunden im November 2016. Damals wünscht er sich spontan, er hätte gleich das Zeitliche gesegnet. Im Spital verläuft er sich; für alles, was er tut, braucht er unheimlich viel Kraft. Zwar spricht er schnell wieder normal, kann wieder normal gehen. Doch er spürt: Normal ist nichts mehr. Marie-Anne: «Das Erste, was er mir sagte, war: ‹Mis Lebe isch verbi.› Ich hatte mehr Vertrauen in ihn und seine Zukunft als er selbst. Er hat früher schon schwere Zeiten durchgemacht.»

Wegen Rückenproblemen musste er in jungen Jahren seine Sprinter-Karriere aufgeben, mit 50 kamen weitere körperliche Beschwerden dazu. Er erfand sich aus dem Tief heraus neu, konzentrierte sich auf geistige Herausforderungen, wurde «Tacho»- und «Club»-Moderator. Scherrer definierte sich über den Beruf – mehr als ihm bewusst war. «Die letzten Monate waren der Horror, man wird komplett aus seiner Umlaufbahn katapultiert, raus aus dem alten Leben. Man verliert das Selbstbewusstsein und das Vertrauen in den Körper. Zumal die Ärzte nicht wissen, warum es passiert ist, es gibt bei mir keine Risikofaktoren.»

Ein Jahr ambulante Reha hat er hinter sich, körperliche Übungen und unermüdliches Hirntraining, das seine Geduld auf die Probe stellt. «Er muss vom Sprinter zum Langstreckenläufer werden», sagt Marie-Anne. Er kontert mit rollenden Augen: «Sag das mal einem Sprinter!» Die Erfolge sind da: Scherrer kann wieder in seiner Band Schlagzeug spielen, nur das Singen klappt nicht mehr ganz so gut.

Aber vor allem arbeitet er seit Dezember wieder bei Radio SRF 1, ist dienstags von 14 bis 15 Uhr auf Sendung. «Das war die grösste Hürde, die ich in meinem Leben bisher genommen habe», erzählt er. Eigentlich wollte er jetzt bereits wieder eine ganze Nachmittagsschicht übernehmen, doch das geht nicht. «Meine Hirnleistungen sind zwar fast wie vorher, aber im Studio merke ich, dass da, wo früher gesunde Anspannung war, Stress und kurze Momente der Panik sind.» Der Job erfordert höchste Konzentration und Multitasking. Früher schüttelte er die dazu nötige Energie aus dem Ärmel, heute ist sie weg. «Konkret: Nach einer Stunde Radio schlafe ich drei Nächte lang zehn bis zwölf Stunden. Nach einer lausigen Stunde! Das geht mir extrem an die Substanz, zieht mich immer wieder runter.» Die positiven Rückmeldungen der Hörer freuen und tragen ihn. Er sei ganz der Alte, meinen sie.

Er selbst nimmt es anders wahr. «Ich warte immer noch darauf, dass ich eines morgens aufwache  und der alte Thomy wieder da ist. Ich weiss, dass ich mir das abschminken kann und mich mit dieser Behinderung – das ist es für mich – arrangieren muss», erzählt er. «Es ist, als ob ein anderer Mensch in diesem Körper lebt. Wo ist das alte Ich hin? Hat es mit der Seele zu tun, die irgendwohin verschwunden ist?»

Zu diesen Fragen kommen trotz guter Versicherungen Existenzängste. Er war bisher der Hauptverdiener und das gerne. Die TV-Karriere sei auf jeden Fall vorbei, wie es beim Radio weitergeht, stehe noch in den Sternen. Solche Sorgen sind seiner Frau fremd. «Ich liebe Thomy, würde mit ihm auch in einer Holzhütte leben», sagt die Tanzlehrerin. Und an ihn gewandt: «Mein Leben ist in dem Moment schön geworden, als du dazukamst.» Sie steht fest an seiner Seite, kann ihm aber nicht in allem helfen. Er macht eine Therapie, bekam wie viele Hirnschlag-Patienten Depressionen. Für Marie-Anne sind diese schwarzen Löcher das Schlimmste. «Es sind die dunkelsten, in die man hineinfallen kann. Ich fühlte mich hilflos, habe mich anfangs gefragt, ob ich vielleicht die falsche Frau bin, wenn ich ihn da nicht hinausziehen kann.» Gespräche mit der Therapeutin und Hilfsangebote (z. B. www.fragile.ch) waren da sehr hilfreich.

Und Tochter Lyn? Sie sieht in der Situation auch Positives, die Beziehung zwischen ihr und ihrem Vater sei noch schöner geworden. Sie habe seit ihrer Kindheit chronische Migräne, kenne diese Abgründe gut. Heute kann sie mit ihm darüber sprechen. Früher sei er gestresst gewesen, nicht immer ganz da, jetzt sei er ehrlicher, offener, emotionaler. «Er ist sich zwar fremd, aber ich glaube, dass er erst jetzt, ohne den Leistungsdruck, wirklich er selbst ist.» Sie ist stolz, dass er mit seiner Geschichte anderen Mut macht. An vorderster Front sehe man nur perfekte Menschen, das sei schlecht. «Man darf verletzlich sein, Fehler machen.»

Zwei starke Frauen, die Thomy Scherrer auf seinem Weg begleiten. Das helfe ihm. Aber ebenso seine Mentalität: «Ich bin es gewohnt, den Bettel nicht hinzuwerfen und mich durchzubeissen.» Das tut er weiter. Nicht wie ein strahlender Held, sondern menschlich – mal  optimistisch, mal mit Wut im Bauch.

Thomy Scherrer: TV-Moderator, Radiostimme, Vater, Ehemann, Hirnschlag-Patient – Kämpfer und Vorbild.