Entfesselt dank klaren Verhältnissen

Jahrelang steckte der Schwinger in einem Dilemma, das ihn in allen Bereichen behinderte. Seit es gelöst ist, fühlt er sich frei – auch im Sägemehl.

Curdin Orlik ist gelöst. Offen und entspannt spricht er mit der GlücksPost während eines Spaziergangs am Thunersee über die grosse Veränderung in seinem Leben. Wir treffen uns an einem seiner Lieblingsplätzchen beim Delta Park. Hierher kommt der Schwinger oft – -allein oder mit seinem Sohn. Er liebt es, ins Wasser zu springen, war früher zehn Jahre im Schwimmclub.

Fast sein ganzes Leben trug der 29-Jährige eine grosse Last mit sich, die ihn erdrückte und ausbremste – auch im Sport. Doch er hatte niemanden, mit dem er -darüber sprechen konnte: seine Homosexualität. «In Landquart, wo ich aufgewachsen bin, wurde Schwulsein, nicht mal verteufelt. Es war schlicht gar kein Thema. Auch nicht in meiner Familie.» In den meisten Männersportarten – gerade im Schwingen – war und ist Homosexualität immer noch ein Tabu. Curdin Orlik gesteht, er habe Schiss gehabt, etwas zu sagen, wollte der Wahrheit nicht ins Auge sehen, weil er sich seiner Gefühle noch unsicher war.

2017 öffnete sich der Wahl-Thuner erstmals – gegenüber diversen Vertrauenspersonen, anschliessend seiner damaligen Partnerin und Mutter seines Sohnes. Seinem Kind lebt er vor, was er selbst nicht mit auf den Weg bekommen und vermisst hat: dass es ganz
viele verschiedene Menschen gibt, auch was ihre Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung betrifft. «Die Jungen haben sowieso sehr viel weniger Mühe, darüber zu sprechen. Für die ist das normal.»

2020 nahm der studierte Agronom allen Mut zusammen und outete sich öffentlich. Das Echo war überraschend positiv. Von Bewunderung über seine Courage bis zu Verständnis von allen Seiten: Es gab Leute, die auf ihn zukamen und ihm von ihren Erfahrungen erzählten. «Ich wurde mit Feedback überschwemmt. Darunter waren ganz viele schöne Geschichten von Grosseltern, Eltern. Aber auch von schwulen Männern, die sich noch nicht geoutet haben.» Orliks Arbeitgeber, seine Arbeits- und Schwingkollegen, Sponsoren und Eltern – alle in seinem Umfeld reagierten wohlwollend. «Ich war sehr dankbar für die Unterstützung und dass mir alle zur Seite standen.» Seine Mutter sagte sogar, sie habe es gewusst. Am meisten Angst hatte Orlik vor der Reaktion seines Vaters: «Er brauchte etwas Zeit, um das zu verdauen. Aber die brauchte ich ja auch. Es gibt Menschen, die Berührungsängste haben, weil sie es nicht kennen. Da müssen auch wir Homosexuellen Verständnis haben.»

Seit er sich geoutet hat, ist der Druck weg. Noch nie hat Curdin Orlik sich im Sägemehl so gut geschlagen und gefühlt. Am Eidgenössischen in Zug holte er 2019 einen Kranz. In der laufenden Jahreswertung steht der für die Berner antretende Ostschweizer auf Platz 5 – letztes Jahr war es noch Rang 60. Das neue Selbstbewusstsein begann allerdings schon früher, Früchte zu tragen: 2017 war er am Unspunnen im Schlussgang. Als ihn die GlücksPost darauf aufmerksam macht, reagiert er, als ob es ihm eben erst bewusst würde: Das unbeschwerte Schwingen begann schon vor dem öffentlichen Coming-out. Die erste schwierige Hürde hatte er ja bereits früher genommen, als er sich einigen Vertrauenspersonen geöffnet hatte.

Nachdem es die ganze Schweiz erfahren hatte, musste der Sportler das Ganze erst einmal verdauen. «Es war so viel, für mich war es eine grosse Sache und alles sehr turbulent.» Er gab keine Interviews mehr. Mochte nicht mehr über das Thema sprechen – er hatte seiner Meinung nach alles gesagt.

Doch nun wurde er eingeladen, Mitglied eines Diversity Think Tanks zu sein. Nach einer ersten Begegnung der Beteiligten aus allen möglichen Gebieten und Berufen stehen erste Grundpflöcke, man einigte sich auf wichtige Themen, die man verfolgen will. «Das Ziel ist, dass sich alle in ihrem Bereich für mehr Sensibilisierung einsetzen», erklärt Curdin Orlik. «Es war ein guter Austausch und spannend zu hören, welche Probleme und ‹Knörze› die anderen in ihren Branchen haben.» Der Diversity Think Tank soll nun jedes Jahr stattfinden und die Ziele immer handfester werden.

Seit Mai sind nun wieder die Kranzfeste in Gang. Das Krafttraining macht der Schwinger mit dem König von Estavayer 2016, Matthias Glarner (36). Der trainiert nach seiner Aktivkarriere nun Sportler, darunter diverse Schwinger. «Es ‹fägt› sehr mit ihm», schwärmt Curdin Orlik. Glarner sei es wichtig, dass der Sportler selbständig bleibt und die Übungen auch ohne seine Hilfe, ausserhalb des Trainingscenters, machen kann.

Curdin Orlik hat sich für das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (ESAF) vom 26. bis 28. August in Pratten BL zum Ziel -gesetzt, «gut zu sein». Damit stellt er seine aktuelle Form gehörig -unter den Scheffel. Wenn er so weiterschwingt, gehört er heuer definitiv zu den klaren Anwärtern auf den Königstitel.

Einen Gegner allerdings möchte er nicht unbedingt im Schlussgang und auch sonst nicht bekämpfen -müssen: seinen Bruder Armon (26). Bis zu dieser Saison war der jüngste Orlik-Bruder ständiger Favorit auf die Krone. «Natürlich gibt es Schlimmeres, als gegen Armon anzutreten. Aber unsere Mutter könnte in dem Fall sicher nicht zuschauen.»