Eintauchen an ihrem Kraftort

Sich selbst gefunden: In abgelegenen Höhen lebt die Schauspielerin total auf. Dort verliebte sie sich auch in die Geschichte ihres neuen Films «Die goldenen Jahre».

Unser Treffpunkt für mittags ist die Mettmenalp im Glarnerland. Esther Gemsch schreibt um acht Uhr, sie sei schon in den Bergen. In der Natur blüht die 66-Jährige auf wie eine Alpenrose: Sie hat es sich zur Angewohnheit gemacht, mit dem Zug an Orte zu fahren, von denen aus sie per Gondel in die Berge kommt. «Erst arbeite ich, geniesse dann die Pracht, die mich erwartet.» Sie geniesse es, langsam irgendwo anzukommen. «Nicht per Flugzeug, ‹bamm›, rein.»

Auf der Mettmenalp hat die Schauspielerin erstmals das Skript zur Geschichte ihres neuen Films «Die goldenen Jahre» gelesen. Es stammt aus der Feder von Petra Volpe («Die göttliche Ordnung»). «Ich sagte der Casting-Direktorin: ‹Für diese Rolle fliege ich – laufe ich – nach New York!›» Mit dem befreundeten Schauspieler Stefan Kurt (63) spielt sie ein frisch pensioniertes Paar, das wegen der neuen Situation in eine Krise schlittert. «Die Arbeit mit Stefan Kurt und Ueli Jäggi – der ganzen Crew – war geprägt von Wertschätzung und Freude am Geschichtenerzählen. Es war eine Form von Liebe, die das ganze Team umfasste. Ich hörte in den 33 Drehtagen kein einziges lautes Wort.» In der Tat ist das Werk von Regisseurin Barbara Kulcsar eine feine und doch ausdrucksstarke Annäherung an die Zeit, in der Paare mit über 60 in einen neuen Lebensabschnitt hineingeworfen werden. Mit neuen Problemen und Unsicherheiten – vor allem: dem Partner neu begegnen zu müssen. Esther Gemsch geht so in ihrer Rolle auf, dass man sich keine geeignetere Besetzung vorstellen kann.

Fast zeitgleich zum Kinostart des Films wird die SRF-Serie «Die Beschatter» ausgestrahlt, in der Esther ebenfalls eine tragende Rolle innehat. Mit Regisseur Michael Steiner (53) hat Esther Gemsch sehr gerne zusammengearbeitet, auch wenn sie der Dreh herausgefordert habe: «Ich drehte nicht in meinem eigenen Berner Dialekt, wie bei ‹Die goldenen Jahre›, sondern in ‹Baseldytsch›, was mir besondere Konzentration abverlangte.»

Nachdem wir einen kleinen Lunch eingenommen haben, machen wir uns auf, den wunderbaren Garichti-Stausee zu umrunden. Dessen Mauern sehen aus, als stammten sie aus der Antike. Die Touristen, die zuvor die Gondeln füllten, haben sich verflüchtigt. Wir haben den See und die wunderbare Landschaft für uns. Die Mettmenalp ist ein Ort, den Esther Gemsch gerne aufsucht. Er ist einer ihrer Kraftorte: Sie kennt jeden Baum, jeden Stein. Wir gehen an eigentümlichen Naturobjekten vorbei. Wie gespenstische Wesen erscheinen die Bäume, die mit der Zeit grosse Steinbrocken unter sich in ihr Wurzelwerk integriert haben. Ein Abschnitt entlang des Wegs ist bemerkenswert – hier wurden hohe Bovis-Werte (Einheit für Energie an bestimmten Landschaftspunkten) gemessen. Die Bäume haben sich allesamt gegabelt, sie wachsen aus einem Strunk, teilen sich dann in zwei bis sechs Stämme. «Ihr seid so schön!», ruft Esther Gemsch spontan.

Eine besonders knorrige Fichte, deren Wurzeln sich über- und ineinander winden, hat es ihr besonders angetan. «Das ist mein Freund», erklärt sie. Sie berührt den Baum zärtlich, riecht an ihm und verteilt sein Harz auf ihren Fingern. «Hier setze ich mich immer hin.» Sie schwärmt von den verschiedenen Düften, atmet tief durch: «Ich kann kaum genug von dieser Luft hier bekommen.» Und die Stelle des Wegs, an der der Zauber zu Ende ist, fühlt sich an, als verlasse man einen Märchenwald.