Der Aufschrei ihrer verletzten Seele

Erfolgreiche Skirennfahrerin, privat glücklich mit Valon Behrami: Trotzdem begleiten sie Kränkungen und angestauter Frust. In einem öffentlichen Brief macht sie ihrem Herzen Luft.

All die Jahre behielt Lara Gut (27) ihre Befindlichkeiten für sich. Blieb wortkarg, wenn es um Privates ging. In Interviews oft launisch, widersprüchlich, wurde sie mehrfach missverstanden. Deshalb wendet sie sich vorzugsweise über die Sozialen Netzwerke an die Öffentlichkeit, wenn sie etwas zu berichten hat – etwa die Liebe zu Fussballer Valon Behrami (33) oder die Hochzeit im Juli. Nun ist Lara Gut der Kragen geplatzt. In einem langen Brief auf Facebook räumt sie mit Missverständnissen auf, erklärt, wie es wirklich war und ist in ihrem Leben und ihrer in Karriere. Der Auslöser? Man kann nur vermuten, dass es die Falschmeldungen um eine Schwangerschaft sind.

Therapeut Henri Guttmann analysiert für die GlücksPost die wichtigsten Punkte in Lara Guts Botschaft. Für ihn steht fest: «Ständig in der Öffentlichkeit zu stehen, Kritik einzustecken und verbal angegriffen zu werden, haben sie veranlasst, in einer persönlichen Erklärung Stellung zu nehmen.»

Alleingang

Lara Gut lässt sich von Beginn weg von ihrem Vater – einem Lehrer – trainieren. Als sie immer besser fährt, wird die Annäherung an den Schweizer Skiverband wichtiger. Nach dem Erfolg in St. Moritz 2008 steht sie hilflos im Rummel um ihre Person. Keiner kann helfen: Für den Vater ist die Situation ebenso neu. Der Verband kommt nicht mit einem Team klar, das autonom funktionieren will, gibt ihr das Gefühl, eine Aussenstehende zu sein. Lara Gut: «Kein anderer wäre in der Lage, nur ein Tausendstel von dem zu machen, was Papa für mich getan hat.»

Henri Guttmann: «Der Familien-Clan kennt sich nach all den Jahren in- und auswendig, das gibt Sicherheit und Vertrauen. Vieles muss gar nicht besprochen werden, weil jeder genau weiss, wo die Stärken und Schwächen des anderen sind: Man kann sich blind vertrauen. Der Skiverband hat zwar viele kompetente Fachleute, Entscheidungswege sind aber oft länger als in einem kleinen Team. Gut möglich, dass Lara nie das erreicht hätte, wäre sie vom Skiverband statt vom Vater gecoacht worden.»

Wut gegen Anfeindungen

Auf die Erfolge in St. Moritz 2008 folgt Kritik von allen Seiten, dass die Tessinerin nicht von einem professionellen Trainer betreut wird. Sobald Gut schlechte Leistungen zeigt, wird die Kompetenz ihres Vaters in Frage gestellt. Sie lebt mit der ständigen Herausforderung, mit starken Leistungen den Alleingang und den Vater zu verteidigen. Lara Gut: «Ich habe immer so sehr gelitten, dass mein Vater angegriffen wurde. Er ist der Einzige, der immer zu mir steht, er hat nie zugelassen, dass ich untergehe, wenn ich am ertrinken war, er hat mich nie alleine gelassen.»

Henri Guttmann: «Lara ist sehr sensibel. Wer plötzlich im Scheinwerferlicht steht, braucht eine dicke Haut und die Fähigkeit, sich von negativer und unqualifizierter Kritik abzugrenzen. Vielleicht dachte das ‹Team Gut› gar nicht daran, dass man neben Physiotherapeuten und Masseuren auch einen geübten Medienberater braucht. Trotzdem: Ich erlebte Lara an Medienauftritten als total authentisch. Sie zeigte ihre Gefühle, wenn sie sauer war über einen vierten Platz. Sie ist emotional, zeigt schonungslos ihre Stimmungslage mit all ihren Facetten – ehrlicher kann eine junge Frau nicht auftreten.»

Tränen

Nicht nur Vater Pauli, auch Mutter Gabriella bekommt die Kritik am Gut’schen Alleingang zu spüren. Lara Gut: «Wie schlecht ging es mir, als ich all diese Briefe mit Beleidigungen, Drohungen und verschiedenen Verrücktheiten entdeckt habe, die meine Mutter über all die Jahre erhalten hat, als sie alleine zu Hause war. Sie liess mich diese nicht sehen, damit es mir nicht noch schlechter geht. Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir noch jetzt die Tränen, und ich frage mich: ‹Warum nur?› Ich nahm diesen Weg letztlich nur, damit ich Ski fahren und meinen Traum leben kann.»

Henri Guttmann: «Ein Druck, wie er auf Lara Gut lastet, ist immens und kann aufs Gemüt schlagen. Sie hat ihrem Vater viel zu verdanken. Wenn ein Team so eng zusammenarbeitet, war es für Lara schwer zu ertragen, dass ihr Vater regelmässig und aus ihrer Sicht ungerechtfertigt in der Kritik stand. Und wenn dann auch noch die Mutter angegriffen wird, die gar nichts damit zu tun hat – das ist heftig. Sie wollte es der Welt beweisen: Ich kann auch ohne Verband aufs Podest fahren.»

Familienbande

Lara fühlt sich wohl im Elternhaus, zog erst vor einem Jahr aus. «Ich wuchs zwischen Büchern, Gefühlen und echten Menschen auf, die davon überzeugt sind, dass
die grosse Liebe existiert. Ich habe meine Eltern immer bewundert, die Kraft und das Vertrauen, das sie sich gegenseitig im Lauf des Lebens gegeben haben. Meine Mutter hat sich immer gevierteilt, um die Familie zusammenzuhalten, damit es uns an nichts fehlt, damit wir uns sicher fühlen.»

Henri Guttmann: «Dieses Statement ist sehr berührend, denn es beweist, dass sie heute eine eigenständige junge Frau ist, die mit Anerkennung und Wertschätzung dankt, was sie im Elternhaus mitbekommen hat.»

Tiefer Einschnitt

Mit 25 Jahren ist Lara Gut die beste Skifahrerin der Welt. Alle wollen über ihre Siege sprechen, niemand fragt, wie es ihr geht. Auch sie denkt nur noch an sich als Athletin, zu wenig an Lara, den Menschen. Jede Sekunde des Lebens ist auf die Optimierung der Leistung fokussiert. Seit sie mit 16 Jahren an die Weltspitze fuhr, kämpft sie um die richtige Balance zwischen Privatleben und Öffentlichkeit. Etwas muss sich ändern. Der Unfall Anfang 2017, als sich Gut das Kreuzband reisst, eröffnet unverhoffte Perspektiven: Ruhe finden, sich selbst finden. Lara: «Ich bin eine Person, ich bin Tochter, ich bin Schwester, ich bin auch Ehefrau und Tante, ich bin eine Freundin, Schwiegertochter, Schwägerin und ja, auch Sportlerin. Und man kann all diese ‹Rollen› zu 100 Prozent leben. Man muss aufhören zu glauben, dass das eine nur auf Kosten des an-deren geht. Das nämlich nennt sich Leben, und es sind diese Momente, die für immer in meinem Herzen bleiben. Gewinnen ist schön, aber der wahre Erfolg ist, mit einem glücklichen Herzen zu glänzen.»

Henri Guttmann: «Unfälle bei Skirennen sind leider keine Seltenheit, wenn Lara für sich entschieden hat, dass sie daraus profitiert hat, möchte ich diese Aussage nicht in Frage stellen. Besinnungspausen sind sicher sinnvoll, aber dafür braucht es keine Unfälle.»

Liebe

Im März 2018 macht Lara Gut auf Facebook ihre Beziehung mit Fussballstar Valon Behrami öffentlich, vier Monate später die Hochzeit. Wieder gibt es Kritik an der überstürzt scheinenden Liebesgeschichte und Gerüchte einer Schwangerschaft. Die Skifahrerin: «Ich habe aus Liebe geheiratet, das ist alles. Als ich die Person kennengelernt habe, die mich zu Hause fühlen liess, die in mein Innerstes eintrat, wusste ich, dass ich den gefunden habe, der mich täglich begleiten würde, einen Schritt nach dem anderen. Ich bin nicht schwanger. Ich trinke Wasser, weil ich immer Abstinenzlerin war. An freien Tagen springe ich in ein Flugzeug und komme nach Hause, weil es hunderttausend Mal besser ist, als den Tag mit einem Videoanruf zu verbringen.»

Henri Guttmann: «Die Zeit, die andere Jugendliche mit Rumsitzen und Quatschen verbringen, kann sich ein junger Sportler, der es zu etwas bringen möchte, nicht im gleichen Masse leisten. Er verpasst zwar einen typischen Teil der Jugendzeit, doch er sammelt Erfahrungen, die ihm das ganze Leben Kraft geben. Die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft vergisst man nie – ein Gefühl, das normale Jugendliche nicht kennen. Lara und Valon aber können genau dies teilen. Und es ist es sicher hilfreich, dass sie in Bezug auf Sport und Familiensinn ähnliche Werte haben, das verbindet.»

Das letzte Wort soll Lara Gut haben: «Vielleicht wirke ich nun (nach dem Brief, Anm. der Red.) etwas menschlicher, denn ich habe zu oft meine Gefühle hinter der Athleten-Fassade versteckt.»