Betty Martinetti
«Das Singen hat meine Seele vom Leid befreit!»
Vor vier Jahren, am 29. Juli 2011, starb Volksmusikstar Nella Martinetti. Jetzt tritt ihre ältere Schwester in ihre Fussstapfen. Sie erinnert sich an «Bella Nella» und erzählt, wie sie neuen Lebensmut gefasst hat – dank dem Singen!
Sie redet ruhig, besonnen, wägt jedes Wort ab. «No, ich hege keinen Groll mehr», sagt Betty (76), die ältere Schwester des verstorbenen Volksmusikstars Nella Martinetti (†65). «Nicht gegen meine Schwester, gegen niemanden.» Sie arbeite viel für ihr Jugendtheater «Pulci e Cicale» in Minusio, dessen Leiterin sie ist. Das absorbiere sie. Man sei daran, zwei neue Stücke einzustudieren: ein Musical namens «Violetta», das Betty umschreiben möchte. Zudem ist eine Aufführung des Stückes «Anastasia» geplant. Es geht um die Geschichte der vermeintlichen Zarentochter. «So geht meine Zeit vorbei. Groll und Ärger will ich nicht mehr haben.»
Es tönt alles friedlich, altersweise, echt. Hat Betty endlich inneren Frieden gefunden? Dem Streit mit ihrer Schwester – und demjenigen mit ihrer Mutter und dem jüngeren Bruder Mauro – folgte jahrelange Funkstille. Betty warf Nella Geltungsdrang vor, diese ihr wiederum Neid. Brachte Nellas Tod auch Versöhnung mit dem Rest der Familie? Betty, diesmal kurz angebunden: «Wenn jemand mich braucht, bin ich da. Aber ich dränge mich nicht auf. Ich führe mein eigenes Leben.»
Vier Jahre ist es nun her, seit Nella Martinetti den Kampf gegen den Bauchspeicheldrüsenkrebs verloren hat. «Ach, die Nella!», bricht es aus Betty hervor. «Ich stand immer in ihrem Schatten, schon in meiner Jugend. Sie durfte singen, ich hätte es gerne getan, aber meine Mutter sagte immer: ‹Hör auf, uns mit deiner schrecklichen Stimme zu stören.›»
Die «schreckliche Stimme» – sie macht Betty heute Freude. «Ich habe schon immer gerne getanzt und gesungen, vor allem die russische Musik hat es mir angetan. Und, natürlich, neapolitanische und sizilianische Volksweisen. Mein Mann war schliesslich Sizilianer.» Ab und zu tritt sie im Grotto «Tecett» hoch über Brissago auf. Sie singt, begleitet von Berufsmusiker Antonio Cantiello, sentimentale süditalienische Weisen. «Dem Publikum gefällt es. Und mir macht es Freude und gibt mir Lebensmut.»
Sie habe in ihrem Leben viel Leid ertragen, viel Ungerechtigkeiten dulden müssen, erklärt Betty Martinetti ihre Sicht der Dinge. «Nicht bloss von meiner Schwester. Wissen Sie, ich will nicht klagen, der Tod macht alles ungeschehen. Sie können mir glauben, jetzt fühle ich mich frei. Frei in der Seele. Das tut mir unendlich gut.»
Hin und wieder besucht Betty den Friedhof in Brissago, wo nicht nur Nella, sondern auch die Eltern ruhen. «Ich würde öfters hingehen, aber das gestaltet sich schwierig. Ich habe kein Auto, und ich bin darauf angewiesen, dass mich jemand mitnimmt. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es umständlich. Ich könnte mit dem Taxi fahren, aber das wird teuer. Schade. Jetzt werde ich einen Blumenhändler beauftragen, beide Grabmäler zu pflegen.» Bis es so weit ist, bringt sie Nella und ihren Eltern Blumen mit. «Ich bin die Einzige, die das tut. Die anderen kümmern sich nicht darum.»
Wen meinen Sie mit den «anderen», Frau Martinetti?
«Ach, darüber möchte ich nicht reden.»
Warum nicht?
«Dann brechen die alten Wunden wieder auf. Nur so viel: Nella hatte doch eine Lebenspartnerin, oder nicht? Eben – ich glaube nicht, dass sie sich darum kümmert. Aber jetzt habe ich schon wieder zuviel gesagt.»
«Wo sind alle Familienmitglieder und alle Fans geblieben, die Nella, als sie noch lebte, umschwärmten wie Motten das Licht?», wird sie sich fragen. Aber sie sagt es nicht. Sie hat gelernt, unerfreuliche Dinge auszublenden. «Wenn ich ins Grotto singen gehe, mache ich einen Abstecher zum Friedhof», erzählt Betty. «Das Grab meiner Eltern wirkt verwahrlost, das tut mir weh.» Jenes von Nella hingegen ziert manchmal Blumenschmuck. Der stamme von Deutschschweizern, die in der Umgebung von Brissago Ferien machen und «Bella Nella» einen Besuch abstatten. Das seien immer weniger, sagt Betty. «Aber auch das ist der Lauf des Lebens.»