Warum sie sich erst am Grab versöhnte

Sie konnte sich nicht überwinden, mit ihrer Schwester Nella am Sterbebett Frieden zu schliessen und ihr damit den letzten Wunsch zu erfüllen. Jetzt erzählt Betty Martinetti, wie sehr sie als Kind gelitten hat und weshalb ihr Herz so hart geworden ist.

 

 

Es ist ein Tag wie im Bilderbuch, als Nella Martinetti (†65) in ihrer Heimat Brissago zur letzten Ruhe gebettet wird. Ein wunderbarer, tiefblauer Himmel mit gigantischen Wolkenbergen, die Blätter der Bäume rund um die romantische Kirche Madonna di Ponte direkt am See wiegen im kühlenden Wind. Unten am See hört man fröhliche Kinder beim Baden. Als die Gäste in dieser Zauberkulisse nach der bewegenden Trauerfeier mit Messe und viel Musik die Kirche verlassen, stehen zwei Menschen im Mittelpunkt: Nellas grosse Liebe Domenico Palladino (64) und ihre ältere Schwester Betty (72).

 

Domenico hatte seit 23 Jahren keinerlei Kontakt zu Nella gehabt und weinte bittere Tränen. Betty hatte vor 12 Jahren mit ihrer Schwester gebrochen. Die Versöhnung mit den beiden ihr einst sehr nahestehenden Menschen, die sich Nella zu ihren Lebzeiten so sehr gewünscht hatte, fand leider erst am Grab statt. Warum waren sich die zwei so verschiedenen Schwestern in den letzten Jahren derart spinnefeind, dass sie nicht mehr miteinander reden konnten? «Dafür muss man meine Vergangenheit als älteste Tochter der Familie Martinetti kennen, um das zu verstehen», sagt Betty nach der Trauerfeier in einem längeren Gespräch mit der GlücksPost. «Auf meiner Person liegt ein sehr grosser Schatten. Und hier an Nellas Abdankung komme ich mir vor, als müsste ich mich wegen der vielen Geschichten, die Nella über mich erzählte, bei Menschen, die ich nicht einmal kenne, quasi rechtfertigen. Dabei habe ich saubere Hände und nie jemandem etwas gestohlen. Trotzdem muss ich mich verteidigen. Aber bevor man den Stab über mich bricht, sollte man meine Vergangenheit kennen.»

 

Nella Martinetti hatte Angst vor Betty. Dabei ist diese Frau mit dem stillen Lächeln die Sanftheit in Person. Als Betty ihre wahre Geschichte erzählt, legt sich tiefe Trauer über ihr Gesicht. «Ich wurde aus meiner eigenen Familie ausgeschlossen. Der einzige, der bis zuletzt Kontakt mit mir pflegte, und das in eher bescheidenem Rahmen, war mein Bruder Mauro (63), den ich sehr liebe. Aber weder meine verstorbene Mutter noch Nella haben in den letzten Jahren ihres Lebens mit mir verkehrt. Die Mutter hatte schon immer Nella mir vorgezogen. Mein Vater liebte mich anfangs noch. Aber ab einem gewissen Punkt hat er sich von mir zurückgezogen.»

 

Warum, darüber mag Betty nicht sprechen. Die GlücksPost weiss: Sie hatte ein uneheliches Kind bekommen, das später allerdings gestorben ist. In der damaligen Zeit bedeutete das im katholischen Tessin eine Schande für die Familie. Später heiratete Betty einen Sizilianer, mit dem sie zwei Kinder hatte, Sohn Cristiano und Tochter Giuliana.

 

«Seit 1993 haben sich meine Mutter und Nella überhaupt nicht mehr bei mir gemeldet. Als ich die Eltern einmal zusammen mit meiner Tochter Giuliana besuchen wollte, wurde ich nicht einmal hereingelassen, sondern sogar weggeschickt.» Betty bekam grosse psychische Probleme und landete schliesslich in einer Klinik. «Ich hatte Platzangst und Depressionen. Dann erkrankte ich 1993 auch noch an Lymphdrüsenkrebs, der inzwischen aber geheilt ist. In dieser für mich sehr schweren Zeit kümmerte sich niemand von der Familie um mich. Auch Nella nicht. Keinerlei Aufmerksamkeit, keine Anrufe, keine Besuche! Ich möchte hier niemanden anklagen. Aber ich möchte nichts anderes als Gerechtigkeit.»

 

Betty wischt sich die Tränen mit einem Taschentuch weg. «Ich musste viel leiden. Dabei habe ich früher zu Hause für sechs Leute in der Familie hart gearbeitet und hatte keine Zeit für irgendwelche Vergnügungen. Ich wurde zum Aschenputtel degradiert und als Dienstmädchen benutzt. Als alleinerziehende Mutter wurde ich in der Familie erniedrigt und wie eine Fremde behandelt, bis ich flüchtete. Von meinen Freunden bekam ich mehr Liebe als von den Eltern und Geschwistern. Meine Schwiegermutter in Sizilien war für mich mehr eine Mutter als meine eigene. Weil sie mich so geliebt hat, wie ich war.»

 

Als Betty noch glücklich verheiratet war, habe sie oft die ganze Familie inklusive Nella zum Essen eingeladen. «Alle bekamen immer genug zu essen und zu trinken; wir hatten es sehr lustig.» Von der schönen heilen Welt von damals hatte auch Nella geschwärmt.

 

Überhaupt nicht lustig hingegen fand Betty, wie ihre eigenen Gesangs-Ambitionen von der Verwandschaft niedergemacht wurden. «Wie Nella wollte auch ich singen. Aber meine Mutter sagte immer zu mir: ‹Vergiss es, du hast eine schreckliche Stimme.› Dabei hatte ein Professor, beide mich Gesangsunterricht nahm, einmal gesagt, ich hätte eine sehr schöne Stimme. Einmal mehr war ich die ‹Verschupfte› in der eigenen Familie.»

 

Dann erzählt Betty, die in Minusio TI die Schauspielschule «Pulci e Cicale» besitzt, warum sie vor zwölf Jahren endgültig mit Nella gebrochen hatte. «Zugegebenermassen verstanden wir uns unser ganzes Leben lang nie richtig gut. Und irgendwann sah es für mich so aus, dass auch sie kein Interesse mehr an einem weiteren Kontakt zwischen uns hatte. Der Bruch kam, als sie mich anrief und fragte, wie ich denn das Nacktfoto von ihr finde, das sie inmitten von Früchten zeigte. Ich war schockiert. Das war ja noch primitiver als diese grauenvolle ‹Tutti-Frutti›- Sendung im Fernsehen. Damit war Nella für mich ganz unten angelangt. Als sie mir dann noch Schimpfwörter an den Kopf warf, sagte ich zu ihr: ‹Schau doch selber in den Spiegel.› Nein, so etwas brauchte ich nicht mehr. Ich brach den Kontakt endgültig ab. Für Nella war ich, wie sie einst sagte, längst gestorben. Also rief ich sie auch nie mehr an.»

 

Ans Spitalbett zu Nella mochte Betty in den letzten Wochen nicht gehen. «Aber ich bin sehr froh, dass ich heute an die Abdankung für meine Schwester gekommen bin. Ich fühle mich jetzt total befreit, weil ich ihr verziehen habe.»