«Ich bin vom Jäger zum Gejagten geworden»

Eben noch Neuling, heute Top-Schwinger mit Siegchancen am Unspunnenfest: Das Geheimnis des Bündners ist neben körperlicher Vorbereitung Mentaltraining – und Gott!

Ein gepflegtes Holzhaus von anno 1907 in Maienfeld GR. Hier wohnt Armon Orlik (22) mit Mutter Helena (50) und Vater Paul (54). Wieder. Letzten Sommer verliess er das elterliche Nest, zog in Rapperswil in eine Studenten-WG. Doch schon während des ersten Studienjahres als Bauingenieur, das er kürzlich erfolgreich abschloss, leitete er die Rückkehr in sein gewohntes Umfeld ein. «Ich musste plötzlich alles selber machen und zum Training hierher kommen. Das war alles zu viel.» Seinen Klub wollte er keinesfalls wechseln. «Wir haben so viel zusammen durchgemacht – bis zum Erfolg am Eidgenössischen 2016. Ich vertraue meinen Trainern voll und ganz. Der Schwingklub Unterlandquart ist für mich eine Herzensangelegenheit.»

Jetzt kann Armon in Chur weiterstudieren. Seine Eltern helfen ihm bei allen organisatorischen Angelegenheiten, betreuen Presse-, Sponsoren- und andere Anfragen. Die häufen sich seit Armons Aufstieg. Der Modellathlet ist zu Recht die grosse Hoffnung des Nordostschweizer Schwingerverbands auf den nächsten König aus eigenen Reihen. Und für die meisten anderen Schwinger des Landes ist er der Angstgegner. Dabei hat er gerade erst richtig Anlauf genommen. «Im letzten Jahr war der Überraschungseffekt noch auf meiner Seite. Nun bin ich vom Jäger zum Gejagten geworden.»

Vor seiner Schwingkarriere war Armon Judoka, wechselte verletzungsbedingt. «Ich hatte einen Wachstumsdefekt im Ellenbogen. Nach der Operation ertrug ich die judotypischen Schläge auf den Arm nicht mehr.» Als Zwölfjähriger hatte er kurz Sägemehlluft geschnuppert, wurde aber nicht warm damit. Nach dem Eingriff wusste er: «Schwingen ist die einzige Lösung. Ich wollte Kampfsport machen, beim Schwingen hatte ich keine Beschwerden. Da blieb nichts anderes.»

Seit zwei Jahren nimmt Armon das Schwingen richtig ernst – und kann bereits beachtliche Erfolge vorweisen: Beim Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest 2016 in Estavayer unterlag er erst im Schlussgang dem nachmaligen König Matthias Glarner (31). Dennoch führte der Bündner letztes Jahr die Punkteliste des Eidgenössischen Schwingverbands an. Das hat viel mit seiner Judo-Erfahrung zu tun. Auch sein Vater kombinierte die beiden Kampfsporttechniken. Heute ist er Kampfrichter und berät seinen Sohn vor und nach Wettkämpfen, analysiert mit ihm die Gegner.

Anfang Mai erlitt Armon beim Aargauer Kantonalschwingfest in Brugg einen spinalen Schock im Nackenbereich, blieb mit Lähmungserscheinungen im Sägemehl liegen. Sechs Wochen später packte er am Nordostschweizer Schwingfest in Davos bereits wieder an, und am 1. Juli thronte er am Bündner-Glarner Kantonalschwingfest wieder auf Platz eins. Sein Geheimnis: Mentaltraining! «Damit kann ich negative Gefühle oder Ängste, die natürlich seit Brugg schon hin und wieder da sind, zur Seite schieben und mich voll auf den Gegner und den Kampf konzentrieren.» In diesem meditationsähnlichen Training stützt sich Armon auf Energiearbeit, Atemübungen und Gott. «Wir sind alle gläubig, die ganze Familie, aber ich bin der Einzige, der den Glauben auch für den Sport einsetzt. Das gibt mir ein Urvertrauen, das sehr wichtig ist.»

Ganz genesen ist der ruhige Riese aber noch nicht. Mitte Juli sagte er seine Teilnahme am Berner Kantonalschwingfest kurzfristig ab. «Ich fühle mich noch nicht zu 100 Prozent bereit, bin körperlich und mental noch nicht so weit. Ich brauche mehr Zeit, um zu alter Stärke zu finden.» Natürlich will er sich auf das nur alle sechs Jahre stattfindende Unspunnenfest (siehe Box) konzentrieren.

Denn Ruhe und Genesung ist Armon sehr wichtig. «Mit meinen Erfolgen merkte ich, dass viel für mich möglich ist. Dafür war aber eine saubere Planung nötig. Ich musste einen Weg finden, neben einer Ausbildung genug Zeit ins Schwingen investieren zu können.» Dafür hat er sein Studium von drei auf fünf Jahre ausgedehnt. «So habe ich Zeit für meine rund 18 Stunden Training pro Woche und genug Erholung.»

Froh ist Armon, dass seine Freunde und Bekannte nicht viel anders auf ihn reagieren, nur weil sein Name überall steht. «Der Umgang ist so locker wie vorher. Auch im Schwingen entstehen schöne Freundschaften, in diesem Umfeld ist alles sehr ungezwungen und es herrscht gute Stimmung.» Das Einzige, das sich geändert habe: «In meinem Umfeld sind plötzlich alle Schwingfans geworden und kommen an die Feste. Sie finden es toll!»