Abtauchen in wilde Zeiten

Auf den Spuren ihrer Jugend: Beim Besuch ihres Geburtsorts Bern schwelgt die Schauspielerin in alten Zeiten. In der Gegenwart ist sie in ihrer Wahlheimat Zürich derzeit mit zwei neuen Rollen beschäftigt.

In Bern könnte Esther Gemsch  (62) nicht mehr wohnen. Das Temperament der Stadt aus ihrer Jugend fehlt. «Meine Stadt hat sich verändert, das regt mich auf! Obwohl ich ja weiss: Das ist normal. Wie meine Widersprüche.»

Seit bald 40 Jahren lebt Esther Gemsch in Zürich. Mit der GlücksPost wandelt sie nun auf den Pfaden ihrer Jugend. Wir sitzen auf der sonnigen Terrasse des Hotel Bellevue Palace. Sie erinnert sich, wie sie als Teenager vor dem protzigen Gebäude stand und die Leute bewunderte, die sich das «Bellevue» leisten konnten. «Solche wie ich kamen da nur rein, wenn sie auf einen Drink eingeladen wurden.»

Nur noch selten verschlägt es die Schauspielerin in die Bundeshauptstadt. Zu sehr vermisst sie die aufregende Phase der 70er-Jahre. «Bern war damals sehr avantgardistisch. Man schrieb, malte, sang Neues wie Polo Hofer und seinen Mundartrock. Und dann waren da all die Dinge, die sich nicht schickten: Kiffen, Cola trinken, langhaarige Typen – alles Unbekannte zog mich an.»

Gemsch wuchs im Vorort Bremgarten auf: «Ein kleines Dorf mit ein paar Höfen und Feldern.» Sie klaute nachts Vaters Töffli, fuhr Richtung Nachtleben. «Für die anderen war ich dem Teufel vom Karren gefallen. Mein Vater sagte nie etwas wegen dem Töffli. Ich denke, er ahnte es, hatte aber nicht die Nerven, sich mit mir auseinanderzusetzen. Meine Eltern waren froh, möglichst wenig darüber zu wissen, was ich trieb.»

Heute ist Bremgarten von der wachsenden Stadt einverleibt. «Ich wollte immer weg. Ich war anders als der Rest meiner Familie: gwunderig, wollte wissen, was ennet dem Gartenzaun ist.» Mit 16 Jahren zog sie in die Stadt Bern, wohnte in WGs, trieb sich in der Szene rum, zu der auch Leute wie Polo Hofer (†) gehörten. Ihr Geld verdiente sie als Frisuren-Modell.

Beim Flanieren durch die Altstadt kommen weitere Erinnerungen hoch. Das legendäre Lokal «Falken» präsentiert sich wie zu Esthers Jugendzeiten. Ein Glücksschrei entfährt ihr, als sie ein Gemälde entdeckt, das die Koryphäen von damals in einem inszenierten Abendmahl zeigt. «Dass es das noch gibt! Hier ist Jimmeli! Jimmeli – so härzig», jauchzt sie aufgeregt und deutet auf die Mitte des Bilds. Der Plastiker und Maler Jimmy Schneider hätte sie «rauchen, saufen und jassen» gelehrt.

Weiter geht es zum Matte-Quartier. Dort trieb sich die Jugend ebenfalls gerne herum. «Es gab da die Tanz-Diele. Im Dunklen erhielt man das erste richtige Müntschi, spürte bei den langsamen Tänzen das erste Mal dieses einzigartige Gefühl im Bauch. Dort konnte man sich wunderbar verknallen und vom besten aller Leben träumen.» In der Unterstadt war auch das Milieu zu Hause. «Aber da hatte man keine Berührungsängste und half einander.» Auf dem Weg dahin passieren wir den Bubenbergrain mit der jahrhundertealten, hohen Sandsteinmauer auf der einen Seite. Immer wieder ruft Esther aus: «Schaut doch, wie schön!» Dann fällt ihr auf: «Die Mauern waren früher völlig mit Efeu bewachsen. Es lebten Fledermäuse und Eidechsen drin. Eine Schande, dass sie das weggenommen haben.»

Esthers Leben nahm eine weitere Wende, als sie Mitte der 70er-Jahre in Tunesien Ferien machte: «Ich wollte endlich das Meer sehen!» Zwei Filmemacher wurden auf sie aufmerksam, verschafften ihr ihre erste Film-Rolle. Zurück in Bern vermittelte ihr Polo Hofer ihre zweite Rolle. Die Eltern fanden die Berufswahl ihrer Tochter gar nicht lustig. Doch Gemschs Schauspielkarriere nahm Fahrt auf, sie schaffte es sogar nach Deutschland, wo ihre Karriere auch gleich durch eine traumatische Begegnung mit Regisseur Dieter Wedel beendet wurde. Sie zog sich zurück. «Das war keine Babypause, das war Angst. Nackte Angst. Ich hatte mein Vertrauen verloren.» Erst nach viel gutem Zureden nahm sie 1999 einen Part in der SRF-Serie «Lüthi und Blanc» an. Dank der Schoggisoap gab es ein geregeltes Einkommen für die Mutter von drei Töchtern.

Nach dem Ende der Serie 2007 war es schwierig, Engagements zu finden. Doch seit rund zehn Jahren hat sie eine neue Bühnenfamilie: Mit Schauspieler und Autor Patrick Frey und Autorin Katja Früh stellt sie herausragende Stücke auf die Beine. «Wir sind so was wie die drei Musketiere. Es ist eine totale Freude, miteinander zu arbeiten. Ich habe meine Nische gefunden.»

Gemsch hat sich vor zwei Jahren aus ihrer langjährigen Ehe mit Unternehmer Andreas Auerbach (54) gelöst. «Ich wohne jetzt in einem 46-Quadratmeter-Zimmer. Ich besitze nichts mehr ausser meinem Bett, ein paar Büchern und Kleidern. Das passt zu meinem aktuellen Lebensabschnitt. Ich will mit leichtem Gepäck durch das Alter, also weg mit dem Ballast.»