Wird Cholesterin ­oft überbehandelt?

Der Cholesterinwert ist ein umstrittenes Thema. Was genau bedeuten erhöhte Werte? Sind sie gefährlich oder nicht? Selbst Experten sind sich nicht einig, ­welche Indizien eindeutig auf Sinn und Nutzen einer Therapie mit Medikamenten ­hinweisen. 

Cholesterin zirkuliert im Blut und ist ein wichtiger Bestandteil unserer Zellwände. Es trägt dazu bei, dass Vitamin D sowie verschiedene Hormone im Körper gebildet werden. Auch die Leber braucht die fettähnliche Substanz für die Bildung von Gallensäure, die beim Verdauen von Nahrungsfetten hilft. Cholesterin wird vom Blut in unterschiedlichen «Eiweiss-Taxis» transportiert. Die so­genannten LDL, Low Density Lipopro­teins, lagern sich auf ihrem Weg durch die Arterien gerne an den Wänden ab, was zu entzündlichen Prozessen und Durchblutungsstörungen führt – ungut für Herz und Gefässe. Ein hoher Wert an HDL-Cholesterin hingegen verringert dieses Risiko.

Nicht die Zahl entscheidet

Wer gesund lebt und darauf achtet, dass das LDL-Cholesterin nicht zu hoch ist, verringert das Risiko für Herzinfarkt, Hirnschlag und Herzinsuffizienz. Das ist unbestritten, da sind sich auch Medizinerinnen einig. Es gibt allerdings Menschen, die sehr gesund leben und dennoch unter zu hohen Werten leiden. Der Grund kann erblich bedingt sein, eine familiäre Er­kran­kung. Doch der Wert allein sagt noch nicht viel über das Risiko aus, weiss Dr. Nicolas Rodondi, Leiter der Lipidsprechstunde und Chefarzt der Medizinischen Poliklinik am Inselspital Bern: «Es muss für jede Person genau geprüft werden, ob das Cholesterin für sie ‹zu hoch› ist. Zudem spielen das Alter, Geschlecht und die anderen kardiovaskulären Risikofaktoren eine Rolle – erst wenn diese miteinbezogen sind, kann das Risiko festgestellt werden. Die Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (Agla) stellt Ärztinnen und Ärzten Skalas zur Bestimmung zur Verfügung.»

Müssen Medikamente sein?

Klar ist, dass vorerkrankte Menschen, beispielsweise nach einem Herzinfarkt, unbedingt auf einen tiefen Cholesterinwert achten sollten. «Ob Menschen mit er­höhtem LDL-Wert, jedoch ohne weitere Risiken, von präventiven Therapien profitieren, wird in­tensiv diskutiert», erklärt der Facharzt.

Kennen Sie Ihr Risiko? Die Empfehlung für einen ersten Check-up liegt im Alter von 40 Jahren – für Personen mit Risikofaktoren wie Diabetes, bei starker familiärer Belastung und für Raucherinnen und Raucher schon früher. «Da man einen erhöhten Cholesterinwert nicht spürt, kann ich diese Empfehlung nur unterstützen. Allerdings reicht eine Nachkontrolle alle fünf Jahre, wenn nichts Besonderes vorliegt», empfiehlt Dr. Rodondi. Ist der Wert zu hoch, werden häufig und sofort Medikamente verschrieben. An diesem Punkt ist der Facharzt skeptisch: «Abhängig von schweizerischen Daten werden zu viele cholesterinsenkende Medikamente verordnet, vor allem auch an jüngere Patientinnen und Patienten. Wie gesagt, es gilt das Risiko einzustufen, nicht einfach den Wert zu beurteilen. Hinterfragen Sie, warum Ihnen die Ärztin oder der Arzt zu Medi­kamenten rät, verlangen Sie die richtigen Daten aufgrund des Agla-Scores. Denn, wer die Medikamente einmal nimmt, nimmt sie meist ein Leben lang.»

Lieber gesünder

Das ist oft unnötig, ist Dr. Rodondi überzeugt. «Es ist wahrscheinlich, dass bei jüngeren Menschen mit hohen Werten, aber geringem Risiko ein Rauchstopp, bessere Ernährung und regelmässige Bewegung mehr bringen würde als Medikamente.» Er ist überzeugt, dass eine eher kleine Gruppe wirklich Medikamente braucht. Es sind älteren Menschen mit Vorerkrankungen oder Menschen mit genetischer Ver­an­la­gung. Aber: «Bei familiärer Erkrankung kann ein Herzinfarkt schon bei 30- bis 60-Jährigen stattfinden. Und ja: Der Anfall hätte vielleicht vermieden werden können, wenn die genetische Veranlagung früher erkannt und entsprechend gehandelt worden wäre.» Nur muss in jedem Fall individuell ent­schie­den werden, ob das «Handeln» mit Medikamenten oder eben mit vernünftiger Lebensweise und etwas mehr Disziplin sinnvoller ist.