Wenn Medizin dick macht

Steigt der Zeiger der Waage kontinuierlich nach oben, stecken nicht unbedingt Chips-Tüten oder Süssgetränke dahinter. Dickmacher können auch gewisse Medikamente sein, die regelmässig eingenommen werden müssen.
 
Alexandra F. hat in den letzten sechs Jahren 27 Kilo zugelegt. Schuld an ihrem Übergewicht sind aber weder Schokoladen-Orgien noch XXL-Hamburger, sondern die Medikamente, die sie gegen ihre Arthritis einnehmen muss.

Alexandra ist nicht die Einzige, die aus medizinischen Gründen mehr Kilos auf die Waage bringt. Gemäss Dr. med. George Blackburn von der Harvard Medical School (USA) hat sich die Zahl der Patienten, die durch Medikamente zunehmen, in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Besonders betroffen sind chronisch Kranke, die ihre Medikamente oft lebenslang einnehmen müssen – wie beispielsweise Diabetiker oder Menschen mit psychiatrischer Diagnose.

Der Grund: Bestimmte Medikamente vermindern den Stoffwechsel, drosseln die Fettverbrennung, regen den Appetit an und erzeugen Hungergefühle. Andere wiederum fördern Wassereinlagerungen, die das Gewicht erhöhen. Nimmt man solche Medikamente regelmässig und über einen längeren Zeitraum ein, kann es passieren, dass man ins Übergewicht rutscht.

So erging es auch Leandra C. (48), die seit ihrer Studentenzeit an einer starken Angststörung mit Panikattacken litt. Von Homöopathie, Johanniskraut über Verhaltenstherapie bis zu Neurofeedback hat sie alles Mögliche ausprobiert, um ihre quälende Angst zu beruhigen. Leider ohne langfristigen Erfolg. «Erst als ich begann, Antidepressiva einzunehmen, die meinen Serotonin-Haushalt regeln, sind meine Angstzustände massiv zurückgegangen», sagt die berufstätige Mutter, die jahrelang immer wieder unfähig war, ohne Begleitung zur Arbeit zu fahren. «Die Lebensqualität und Selbständigkeit, die ich durch diese Medikamente gewonnen habe, sind enorm, auch wenn der Preis dafür hoch ist: Ich habe in den vergangenen neun Jahren leider 35 Kilo zugenommen.»

Das sind die Dickmacher
Zu den Medikamenten, die dick machen bzw. Übergewicht erzeugen können, zählen:

  • bestimmte Präparate gegen Diabetes
  • Psychopharmaka (Antidepressiva, Neuroleptika)
  • Mittel, die Kortison enthalten
  • Betablocker
  • Gewisse Migränemittel
  • Hormone (Anti-Baby-Pille)

Doch keine Panik: Nicht jeder, der eines dieser Medikamente schluckt, wird zwangsläufig dicker! Entscheidend sind auch die Gene, wie Forscher der britischen Universität Sheffield herausgefunden haben.
 
Nutzen und Risiken abwägen
Vielleicht einer der häufigsten Gründe warum Frauen (aber auch Männer) Medikamente wie Antidepressiva ablehnen oder nicht mehr regelmässig einnehmen wollen, ist die Angst vor unerwünschten Pfunden. So ging es auch Leandra, die sich jahrelang gegen den ärztlichen Rat sperrte, Antidepressiva einzunehmen. «Ich wollte es ohne ‹Psycho-Pillen› schaffen und hatte zudem Angst, wie ein Ofenküchlein auseinanderzugehen.»

Obwohl sie nun extrem zugenommen hat, möchte sie das Medikament aber nicht mehr einfach absetzen, wie sie es schon einmal tat. Denn damals kehrten die Angstattacken mit voller Wucht zurück. Da bereits ihre Mutter an einer Angststörung litt, hat die alleinerziehende Mutter jetzt entschieden, so lange wie nötig Psychopharmaka zu schlucken. «Auch wenn ich eigentlich eitel bin, ist es mir trotzdem lieber als ‹Dicke› taxiert zu werden, als nochmals durch die Hölle der Angst zu gehen», so Leandra aus Überzeugung.

Wer das Pech hat, wegen seiner Medikamente zuzunehmen, sollte sie auf keinen Fall im Alleingang reduzieren oder gar ganz weglassen, sondern unbedingt mit seinem behandelnden Arzt über das Problem sprechen. So kann man herausfinden, ob es gleich wirkende Medikamente gibt, die weniger auf die Linie schlagen.

Gibt es keine Alternativen, gilt es Risiko und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Denn die Wirkung der Medizin ist oft wichtiger als das ideale Gewicht. «Wenn jemand endlich ein Medikament gefunden hat, mit dem er symptomfrei ist, dann nimmt er manchmal lieber die Gewichtszunahme in Kauf, weil er jetzt ein besseres Leben führt», so Psychiater Stefan Leucht von der Technischen Universität München.
 
In Bewegung bleiben
Auch wenn die zusätzlichen Pfunde die Lust an der Bewegung reduzieren, bleibt regelmässiger, sanfter Sport ein wichtiges Muss. Ob Schwimmen, Treppen steigen, ausgedehnte Waldspaziergänge, Yoga für Übergewichtige oder Trampolin-Springen (Rebounder) vor dem Fernseher: Bewegung verbrennt einerseits Kalorien und hilft, nicht noch mehr zuzunehmen. Andererseits werden Glückshormone ausgeschüttet, die die Lebensfreude erhöhen.