Wenn die Körperabwehr streikt

Gehören Sie zu jenen Menschen, die als besonders «anfällig» gelten und mehrmals pro Jahr krank im Bett liegen? Das könnte an einem Immundefekt namens CVID liegen, der bei immer mehr Patienten diagnostiziert wird.

Belinda L.* ist alle vier Wochen im Inselspital Bern «zu Gast». Genauer gesagt sitzt sie dann in einem Liegesessel auf der Allergologisch-Immunologischen Poliklinik, wo während rund vier Stunden eine Immunglobulin-Lösung in eine Vene an ihrem Arm fliesst. Sie soll ihr für die nächsten Wochen bessere Abwehrkräfte sichern.

Sie benötigt sie dringend. Denn die 44-jährige Bernerin leidet an einer Krankheit namens CVID (Common Variable Immuno-deficiency), einem angeborenen Immundefekt.

Lange Leidenszeit hinter sich

Die Mutter eines dreijährigen Sohnes blickt auf eine lange Leidenszeit zurück, «doch richtig schlecht wurde mein Gesundheitszustand kurz nach der Geburt», erinnert sie sich. Zwar sei sie schon immer «anfällig» gewesen und hätte bereits als Kind immer wieder «spezielle Gesundheitsprobleme» gehabt. Richtig bergab ging es dann aber vor drei Jahren. «Seither war ich kaum mehr als zwei Wochen am Stück wirklich gesund», sagt Belinda L. «Wenn ein Infekt am Abklingen war, wurde ich schon wieder von einem nächsten befallen.» Meist litt die Psychologin unter Bronchitis und Mittelohrenentzündungen, weswegen sie sogar hospitalisiert werden musste. Die Zeit nach der Geburt sei sehr schwierig und kräftezehrend gewesen. «Mein Sohn hat seine Mutter bisher vor allem krank und auf dem Sofa liegend wahrgenommen», erklärt sie mit einem Anflug von Galgenhumor. Freunde wissen seit Langem, dass eine Einladung möglicherweise nicht zustande kommt, weil Belinda L. kurz vorher wegen eines Infekts wieder absagen muss.

Angst vor schwerer Erkrankung

Dazu kam mit der Zeit die Angst, an einer schweren Erkrankung zu leiden. «Ich machte mir grosse Sorgen, dachte sogar an eine Krebserkrankung.» Der Hausarzt konnte jedoch nichts finden, «und ich begann, an mir selbst zu zweifeln, dachte, das Ganze hätte wohl psychische Gründe.» Bis dann ihr Partner, selber Arzt, den Hausarzt aufforderte, die Immunwerte bei seiner Frau zu bestimmen. Die Diagnose war bald klar: Variables Immundefektsyndrom (CVID), die häufigste Form des Antikörpermangels.

Häufiger als gedacht

So wie Belinda L. geht es in der Schweiz schätzungsweise 1000 Menschen. Die Erkrankung, die Männer und Frauen etwa gleich häufig betrifft, gibt es zwar schon lange. Nur ist sie wenig bekannt, weil man davon ausgegangen ist, dass die Häufigkeit zwischen 1:25 000 bis 1:50 000 liegt. «Neueste Zahlen zeigen aber, dass gewisse Formen von Abwehrschwäche doch häufiger sind», erklärt Arthur Helbling, Leiter der Allergologisch-Immunologischen Poliklinik des Inselspitals Bern.

Was ist ein Immundefekt?

Immundefekte lassen sich in angeborene (primäre) und erworbene (sekundäre) Formen unterscheiden. Während erworbene Immundefekte durch Krankheiten wie AIDS, Medikamente oder Tumore verursacht werden, liegt bei angeborenen eine genetische Veranlagung vor. Das Immun-system kann den zum Überleben wichtigen Abwehrschutz gegen Bakterien, Viren oder Parasiten nicht in genügendem Mass aufbauen. Die Folge: Die Betroffenen sind meist mehrmals im Jahr krank und leiden an Infekten vor allem der Atemwege (Sinusitis, Stirn- und Kieferhöhlenkatarrhe, Halsweh, Mittelohrentzündungen, Bronchitis und Lungenentzündung), aber auch des Magen-Darm-Traktes oder der Haut
(Abszesse).

Krankheitsursache unbekannt

Angeborene Immundefekte gelten als selten. Sie zeigen sich durch chronische, oft schleichende Verläufe von Atemwegsinfekten an, vor allem im Erwachsenenalter. Daher werden Erkrankungen, die mit einem Mangel an Abwehrstoffen, sogenannten Antikörpern, einhergehen, lange Zeit nicht bemerkt. CVID kann zwar bereits im Kindesalter auftreten, wird aber – wenn überhaupt – erst im Erwachsenenalter korrekt erkannt. «Die meisten haben während Jahren Beschwerden, die aber erst im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt diagnostiziert werden», erklärt Arthur Helbling. Leider vergehen oft zwischen sieben bis zehn Jahre, bis die Diagnose CVID gestellt wird. «Die Diagnose zu stellen, ist nicht schwierig, nur muss der Arzt daran denken und die Krankheit kennen», so Arthur Helbling.

Therapie mit Immunglobulinen

Ist die Diagnose einmal gestellt, kann das CVID durch die Gabe der fehlenden Immunglobuline relativ einfach und problemlos behandelt werden. «Das Ziel ist es, die Betroffenen vor Infektionskrankheiten zu schützen und ihnen dadurch ein möglichst beschwerdefreies Leben zu ermög-lichen», so Helbling. Die verabreichten Immunglobuline werden aus dem Blut von 10 000 bis 60 000 Blutspendern gewonnen und für die Herstellung zusammen-geführt. Sie werden entweder intravenös (durch die Vene) oder subkutan (durch die Haut) ver-abreicht. Mit der Immunglobulin-Ersatztherapie treten Infektionskrankheiten deutlich seltener auf, und sie sind weniger schwerwiegend.

Lebenslange Therapie

Belinda L. ist froh, dass sie heute den Grund für ihre Krankheits-Anfälligkeit kennt. Sie hat sich auf eine «lebenslange Behandlung» eingestellt. «Seit der Immunglobulin-Gabe bin ich viel weniger krank und fühle mich auch sonst wieder relativ fit.» Und sie freut sich auf Weihnachten, wo sie mit ihrer Familie bei Verwandten feiern wird. «Ich bin mir sicher, dass ich dieses Jahr, zum ersten Mal seit langer Zeit, gesund durch die Feiertage kommen werde.»

* Richtiger Name der Redaktion bekannt

Weitere Infos

  • svai, Schweizerische Vereinigung für Angeborene Immundefekte, www.svai.ch
  • aha! Schweizerisches Zentrum für Allergie, Haut und Asthma, www.ahaswiss.ch