Wenn der Griff zur Pille zur Sucht wird

Der Gebrauch von Schlaf- und Beruhigungsmitteln ist verbreitet, besonders bei Menschen über 55. Doch viele wissen nicht, dass die sogenannten Benzodiazepine schnell zu einer Abhängigkeit führen können.
 
In unserer hektischen Welt sind Nervosität, Unruhe, Schlaflosigkeit und Ängste weit verbreitet. Dies verführt dazu, sich vom Arzt entspannende Medikamente verschreiben zu lassen. In der Schweiz wurden letztes Jahr 4,5 Millionen Packungen Schlafmittel und 2,8 Millionen Packungen Beruhigungsmittel verkauft. Vor allem Frauen und ältere Menschen greifen oft zu entspannenden Benzodiazepinen – sei es, um Ängste zu lösen, sei es um besser zu schlafen. In bestimmten Situationen können diese Medikamente eine wichtige Hilfe sein, sofern sie genau nach Vorschrift des Arztes eingenommen werden. Doch es ist auch Vorsicht geboten: Benzodiazepine können schnell und schwer abhängig machen, wenn sie über einen längeren Zeitraum eingenommen werden.
 
Experte auf dem Gebiet der Medikamentenabhängigkeit ist Dr. Christoph Schwejda, Chefarzt ad interim der Forel Klinik, dem führenden Kompetenzzentrum zur Behandlung von Suchterkrankungen. Wir fragten ihn, wie Benzodiazepine wirken und wie eine allfällige Sucht überwunden wird.
 
GlücksPost: Was genau bewirken diese Medikamente?
Dr. med. Christoph Schwejda: Die Medikamente aus der Gruppe Benzodiazepine wirken auf einen Teil des zentralen Nervensystems – über Bindungsstellen, die «GABARezeptoren» genannt werden. Die Anregung dieser Rezeptoren hat eine Hemmung des neuronalen Netzwerks zur Folge, was wir als Entspannung, Abnahme der Angst und Müdigkeit erleben.
 
Stress bestimmt zunehmend unseren Alltag. Hat der Konsum von Benzodiazepinen deswegen zugenommen?
Die Häufigkeit der verordneten und wahrscheinlich auch eingenommenen Medikamente aus der Gruppe der Benzodiazepine bleibt auf recht hohem Niveau konstant. Aus der Quelle von ‹Sucht Info Schweiz› (2011) kann nur folgende Tendenz abgeleitet werden: Der Anteil von Patienten, die beim Eintritt in eine stationäre Massnahme als Hauptgrund «Probleme mit Medikamenten» angeben, nimmt eher ab. Er lag im Jahr 2011 bei 11,9 Prozent.
 
Weshalb kann man von diesen Medikamenten süchtig werden? Welchen «Kick» bringen sie?
Der «Kick» ist vor allem die zu erwartende Wirkung eines Medikaments, wie beispielsweise besseres oder rasches Einschlafen. Da sich der Körper an den Wirkstoff gewöhnt (sog. Toleranzentwicklung), kann die erwünschte Wirkung ausbleiben. Dies kann dazu verleiten, die Dosis zu steigern. Auf diesem Weg beginnt die Spirale, die zur Abhängigkeit führen kann.
 
Wer ist besonders gefährdet, in die Suchtfalle zu tappen?
Vor allem sind das jene Menschen, die zusätzlich unter psychischen Belastungen oder Störungen leiden, wie Depression, Angst, Schlafstörungen etc. Es muss andererseits auch die Verfügbarkeit vorhanden sein, d.h. im Fall einer Medikamenten-Abhängigkeit muss es auch einen Arzt geben, der die Medikamente verschreibt.
 
Was passiert, wenn man längere Zeit von Benzodiazepinen abhängig ist? Verändert sich auch die Persönlichkeit?
Wir kennen sehr gut die Wirkung der Medikamente während der Einnahme. Was aber die Medikamente, wie z. B. Benzodiazepine, nach einer längeren Zeit der Einnahme an Veränderungen der Persönlichkeit bewirken, wurde noch nicht genau untersucht. Es ist bekannt, dass Benzodiazepine den Schlaf in seiner Qualität negativ beeinflussen und nach dem Absetzen der Medikation die Schlafstörungen auch längere Zeit bleiben.
 
Wie kommt man von dieser Sucht wieder los? Man hört immer wieder, der Entzug sei schlimmer als der Entzug von Heroin…
Der fachlich durchgeführte Benzodiazepin-Entzug dauert länger und die bestehenden psychischen Störungen können, nach dem Absetzen der Medikamente, intensiver erlebt werden. Es können zusätzliche Komplikationen auftreten wie ein delirantes Erleben oder ein epileptischer Krampfanfall.  
 
Braucht es für den Entzug einen Klinikaufenthalt?
Ein ambulanter Entzug sollte immer ärztlich begleitet werden. Im Fall von bestehenden zusätzlichen psychischen oder körperlichen Erkrankungen oder auch bei älteren Patienten ist es häufig günstiger, den Entzug stationär durchzuführen. Der Klinikaufenthalt kann bis mehrere Wochen dauern.
 
Wie geht es nach dem Entzug weiter?
Am wichtigsten ist es, mit dem Patienten die Ursache der Medikamentensucht zu finden und, falls eine Erkrankung vorliegt, diese angemessen zu behandeln. In vielen Fällen ist eine suchttherapeutische Nachbehandlung notwendig, um einen Rückfall zu vermeiden.
  
AUCH SO KÖNNEN SIE RUHE FINDEN:
Empfehlenswert sind bei Nervosität Entspannungsmedikamente und Schlafmittel auf pflanzlicher Basis. Sie enthalten Baldrian, Hopfen, Melisse, Passionsblume oder Pestwurz. Bei Schlafstörungen haben kognitive Verhaltenstherapien langfristig gute Resultate gezeigt – in einer Schlafklinik oder bei einem Verhaltenstherapeuten (www.sgvt-sstcc.ch).