Wenn der Beipackzettel krank macht

Manchmal kann allein der Glaube heilen – Placebo-Effekt nennt man das. Doch leider funktioniert auch das Gegenteil: Allein die Erwartung, ein Leiden zu bekommen, macht nicht selten tatsächlich krank.

 

Lesen Sie die Packungsbeilage, wird uns empfohlen. Tun Sie das? Vielleicht besser nicht! Denn was dort steht, kann einem oft den Angstschweiss auf die Stirn treiben. Mögliche Nebenwirkungen noch und noch sind da aufgelistet. Und lassen einen in sich hineinhorchen: Habe ich das vielleicht auch?

Die Chancen stehen gut, dass Sie tatsächlich etwas davon haben. Oder bekommen, wenn Sie wissen, dass Sie ein entsprechendes Medikament genommen haben. Das ist nicht etwa Einbildung. Sondern Ihre Psyche, die übernommen hat. Sie setzt einiges in Gang in Ihrem Körper.

Der Glaube an Heilung ist eine starke Kraft – die Angst vor Leiden  allerdings auch. Das krasseste Beispiel dazu liefert ein Mann namens Derek Adams, der sich das Leben nehmen wollte und 29 Kapseln gegen Depressionen schluckte. In kritischem Zustand wurde er in die Notfallstation eingeliefert, er drohte zu sterben. Bis die Ärzte feststellten, dass seine Medikamente gar keinen Wirkstoff enthalten hatten – er gehörte zu jenen Teilnehmern einer Studie, die nur Placebos bekommen hatten. Als auch Adams dies erfuhr, besserten sich seine Symptome schlagartig, er wurde wieder gesund.

Der Körper reagiert
Ein Hirngespinst ist der Nocebo-Effekt aber nicht. Er ist physisch vorhanden, man kann ihn sogar messen. Er verändert den Stoffwechsel, verstärkt oder lindert Schmerzen. Erwarten wir eine Schmerzlinderung, zum Beispiel durch ein Medikament, so kann das Hirn auch selbst Schmerzmedikamente herstellen. Bekommt ein Patient eine niederschmetternde Diagnose, so verändert die Angst auch sein Immunsystem. Es wird geschwächt – und kann die Krankheit nicht mehr optimal abwehren.

Wenn wir auf dem Beipackzettel lesen, dass ein Medikament müde machen oder Durchfall auslösen kann, sind die Chancen gut, dass wir tatsächlich eine grosse Müdigkeit spüren oder die Verdauung sich rasant entwickelt. Und wenn wir im Fernsehen eine Sendung über eine Krankheit gesehen haben, so entdecken wir entsprechende Symptome an uns selber. In Deutschland gab es jahrelang den «Morbus Mohl», benannt nach dem Präsentator einer Medizinsendung im Fernsehen. Nach der Ausstrahlung dieser Sendung tauchten jeweils ungewöhnlich viele Patienten in Arztpraxen auf, die überzeugt waren, genau an der Krankheit zu leiden, die am Vortag im TV vorgestellt worden war.

Ein Bild haftet besser im Kopf
Auch Röntgenbilder können unschöne Folgen haben. «Ein Mensch, der seinen Bandscheibenvorfall auf einem Röntgenbild gesehen hat, wird ängstlicher als einer, der nur abstrakt von seinem Hexenschuss spricht», hat Gerd Müller, der Leiter des «Hamburger Rückenzentrums am Michel» festgestellt. Der Schmerzforscher Christoph Maier erklärt sogar: «Je mehr radiologische Aufnahmen der Patient mitbringt, desto wahrscheinlicher ist es, dass seine Rückenschmerzen chronisch werden – einfach weil er die Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommt.»

Forschen wir im Internet nach den Ursachen eines Zipperleins, so können wir dort harmlose Erklärungen finden. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass wir auf die schlimmstmögliche Variante stossen. Statt an Übermüdung glauben wir dann an einen Hirntumor, statt auf eine Grippe stossen wir auf ein Rheumaleiden.

Viele Tests – viel Angst
Auch Check-ups bergen ein Risiko. Oft werden dabei nicht behandlungsbedürftige Krankheiten entdeckt, sondern geringfügige Abweichungen von der Norm. Der Patient hat jetzt aber Angst. Noch fragwürdiger sind Gen-Tests, mit denen das Risiko ermittelt wird, an einem bestimmten Leiden zu erkranken. Denn auch wenn ein leicht erhöhtes Risiko besteht, eine Krankheit zu bekommen, so heisst das noch lange nicht, dass man wirklich daran erkranken wird – die Angst davor wird einen von da an aber ein Leben lang begleiten.

Selbst Mediziner sind übrigens gegen Nocebos nicht gefeit. So erzählt der Arzt und Journalist Magnus Heier, der ein Buch über den Nocebo-Effekt geschrieben hat, wie er selbst überzeugt war, an ALS zu leiden, einer der schlimmsten neurologischen  Erkrankungen. Er hatte Symptome dieser Krankheit an sich selber entdeckt – und zwar genau dann, als die Krankheit zum ersten Mal in einer Vorlesung behandelt wurde. Im Gespräch mit einem Arzt und anderen Studenten stellte sich dann heraus, dass es den anderen genau gleich ergangen war – glücklicherweise waren sie aber alle kerngesund.

Buch-Tipp
Dr. med. Magnus Heier: «Nocebo: Wer’s glaubt wird krank», Hirzel- Verlag, Fr. 25.90.