Warum wir immer mehr Medikamente nehmen

Seit Jahren steigt der Konsum von Medikamenten in der Schweiz an. Die Menschen werden älter und haben damit auch mehr Krankheiten. Doch Patientinnen und Patienten sollten den Überblick behalten, rät der Experte.

Von Ines Rütten

Über acht Milliarden Franken haben die Krankenkassen im Jahr 2021 für Medikamente in der Grundversicherung gezahlt. Damit sind die Kosten für Medikamente der Schweizer Bevölkerung so hoch wie nie zuvor. Das zeigt der neueste Arzneimittelreport des Krankenversicherers Helsana, den diese jedes Jahr zusammen mit der Universität Basel erstellt. Die Experten erklären die Entwicklung unter anderem damit, dass vor allem einzelne, sehr teure neue medikamentöse Therapien für den Anstieg verantwortlich sind, mit denen Krebs- und Tumorerkrankungen behandelt werden. In diesem Bereich war die Kostensteigerung prozentual am grössten.

Doch auch der Gesamtkonsum von Medikamenten steigt in der Schweiz stetig an, wie die Arzneimittelreporte der letzten Jahre zeigen. Aber warum nehmen wir immer mehr Medizin? «Der steigende Altersdurchschnitt und die zunehmend grössere Auswahl an wirksamen Medikamenten sind sicher die wichtigsten Gründe», sagt Samuel Allemann, Professor für Pharmazie an der Uni Basel. Er hat den Helsana-Report 2022 als Experte begutachtet. Gemäss Report sind 75 Prozent aller Personen, die mehr als fünf Medikamente einnehmen älter als 50 Jahre. Bei den Personen, die über zehn Arzneimittel einnehmen, sind es sogar 85 Prozent. Kurzfristig sei es häufig kein Problem, wenn viele Medikamente gleichzeitig angewendet würden, sagt Allemann. Ausserdem hilft der gezielte Einsatz von mehreren Arzneimitteln bei vielen Krankheiten, indem mehrere Wirkstoffe bewusst kombiniert werden, weil sie dann häufig tiefer dosiert werden können, heisst es im Arzneimittelreport.

«Problematisch kann Polypharmazie vor allem dann werden, wenn viele Medikamente gleichzeitig und über längere Zeit angewendet werden», sagt Allemann. Vor allem, wenn unterschiedliche Ärzte unabhängig voneinander und ohne Abstimmung der Gesamttherapie Medikamente verschreiben, kann es sein, dass der Patient, die Patientin über- oder unterdosierte Arzneien erhält oder diese Wechselwirkungen auslösen. Allemann rät deshalb, die Medikamente von Zeit zu Zeit in der Apotheke oder Arztpraxis überprüfen zu lassen. «Besonders wenn neue Medikamente dazukommen oder wenn sich der Gesundheitszustand merklich ändert.» Wichtig sei, den Überblick zu behalten, wobei auch ein elektronisches Patientendossier helfen könne, das in verschiedenen Apotheken kostenlos angeboten werde.

Immer mehr Krankheiten können heute mit Arzneimitteln behandelt werden, was für viele Patientinnen und Patienten oft mehr Lebensqualität bedeutet. Allerdings hat der steigende Konsum auch negative Auswirkungen auf die Umwelt: Der übermässige Einsatz von Antibiotika kann zum Beispiel die Bildung von resistenten Keimen fördern, sprich von Bakterien, die sich nicht mehr mit Antibiotika behandeln lassen. Um diesem Problem entgegenzuwirken, hat der Bundesrat 2015 eine nationale Strategie gegen die Antibiotikaresistenzen lanciert. Der neueste Report, der im November erschienen ist, zeigt, dass die Massnahmen Wirkung zeigen: Zwischen 2019 und 2021 verschrieben Ärzte knapp 20 Prozent weniger Antibiotika. Allerdings würden die Resistenzen global weiter zunehmen, heisst es in der Medienmitteilung des Bundes. 

Viele Arzneimittel werden verschrieben und sollten möglichst nach Anleitung angewendet werden. Doch Patientinnen und Patienten können ihren Medikamentenkonsum auch selbst steuern. Der Experte Samuel Allemann rät, sich folgende Fragen zu stellen: Weiss ich, weshalb ich das Medikament einnehmen soll? Sind allfällige Nebenwirkungen erträglich? Kann ich die Therapie so umsetzen, dass ich einen Nutzen davon habe? «Wenn diese Fragen mit Nein beantwortet werden, ist ein Medikament womöglich nicht angemessen», sagt Allemann. Dann solle man sich an den Arzt oder die Apothekerin wenden. «Auf keinen Fall sollte man Medikamente ohne Rücksprache einfach absetzen, da dies zu zusätzlichen Problemen führen kann.»

Dass ältere Personen eher gesundheitliche Probleme haben, ist nachvollziehbar. Warum aber auch junge Menschen immer häufiger zu Arzneimitteln greifen, darüber könne die Fachwelt nur spekulieren, sagt Allemann: «Ein Grund könnte ein steigender Leistungsdruck in der Gesellschaft sein. Zu jeder Zeit muss die volle Leistung abgerufen werden.» Für Krankheit bleibe schlicht kein Platz. Medikamente seien in solchen Situationen für viele Menschen und auch Ärzte vielleicht die vermeintlich schnellste und einfachste Lösung.