
Der Blick auf die Anzeige der Körperwaage ist stets auch Anlass für Fragen wie «Wovor fürchte ich mich?».
Mehr als nur Kilos
Wenn Übergewicht zum emotionalen Schutzmechanismus wird, übernimmt es der Körper, die Leidensgeschichte nach aussen zu tragen. Fünf Strategien, wie Sie die Last loswerden können.
Von Sabrina Pavone
Der Kampf gegen überschüssige Kilos ist für viele Menschen ein grosses Leiden, geprägt von unzähligen Diäten, Frustration und oft auch Hungerzuständen. Der Fokus liegt dabei meist auf Kalorienzählen, Sport und Willenskraft, während die tiefere, psychologische Dimension oft übersehen wird: Übergewicht kann ein emotionaler Schutzmechanismus sein. Unser Körper erzählt möglicherweise eine Geschichte, die Worte allein nicht ausdrücken können.
Das Gewicht wird zum Schutzpanzer
Für manche Menschen dient das überschüssige Gewicht als eine Art Schutzpanzer, der sie vor der Aussenwelt abschirmt. Das kann verschiedene Gründe haben:
Schutz vor emotionaler Verletzung: Menschen, die in der Vergangenheit durch Ablehnung, Kritik oder sogar Missbrauch emotional verletzt wurden, können unbewusst ein Schutzschild in Form von Übergewicht aufbauen. Dieses zusätzliche Gewicht vermittelt das Gefühl, weniger verletzlich zu sein und emotionalen Schmerz abwehren zu können.
Schutz vor Nähe und Intimität: Für Personen, die Angst vor zu grosser Nähe oder Intimität haben, kann Übergewicht ein unbewusstes Mittel sein, um potenzielle Partner oder andere Menschen auf Distanz zu halten. Es kann dazu führen, dass man sich unattraktiv fühlt oder annimmt, weniger begehrenswert zu sein, was die Wahrscheinlichkeit intimer Beziehungen verringert.
Schutz vor unerwünschter Aufmerksamkeit: Insbesondere bei Frauen, die möglicherweise traumatische Erfahrungen gemacht haben (z. B. sexuelle Belästigung oder Missbrauch), kann das Gewicht als Schutzschild gegen unerwünschte männliche Aufmerksamkeit dienen.
Schutz vor Überforderung und Anforderungen: In manchen Fällen dient das Gewicht als Vorwand, sich aus sozialen Verpflichtungen oder leistungsbezogenen Situationen herauszuhalten. «Ich kann das nicht, weil ich zu schwer bin» wird zur unbewussten Rechtfertigung, um Druck und Erwartungen zu entgehen.
Essen als Bewältigungsstrategie
Eng verbunden mit dem emotionalen Schutzmechanismus ist Essen als Bewältigungsstrategie. Wenn Gefühle wie Stress, Traurigkeit, Einsamkeit, Langeweile oder Angst überhandnehmen, greifen zahlreiche Menschen unbewusst zu Essen, um diese Emotionen zu regulieren.
Emotionales Essen: Nahrung, insbesondere zucker- und fettreiche Lebensmittel, kann kurzfristig Trost spenden, beruhigen oder sogar euphorisieren. Das Gehirn schüttet dabei Wohlfühlhormone aus.
Kontrollverlust: Der Kampf gegen das Gewicht wird oft als Mangel an Willenskraft interpretiert. Doch wenn Essen eine emotionale Funktion erfüllt, hat das oft wenig mit Willenskraft zu tun. Es ist ein unbewusster Drang, der durch tiefer liegende Bedürfnisse und unverarbeitete Emotionen gesteuert wird.
Fünf praktische Wege zum Abbau Ihres Schutzpanzers
Das Erkennen, dass Übergewicht mehr als nur eine Frage der Ernährung sein kann, ist der erste und wichtigste Schritt zur Veränderung. Es geht nicht darum, sich selbst für den «Schutz» zu verurteilen, sondern darum, die verborgenen Bedürfnisse zu verstehen und gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
1 Emotionale Achtsamkeit entwickeln: Beginnen Sie, Ihre Essgewohnheiten zu beobachten. Wann greifen Sie zum Essen, obwohl Sie keinen physischen Hunger verspüren? Welche Gefühle gehen dem voraus? Führen Sie Buch.
2 Professionelle Unterstützung suchen: Einen emotionalen Schutzmechanismus zu durchbrechen, gelingt selten ohne Unterstützung. Psychologen, Psychotherapeutinnen, spezialisierte Coachs und Ernährungsberaterinnen können helfen, die Ursachen zu identifizieren, alte Wunden zu heilen und neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
3 Gesunde Bewältigungsstrategien lernen: Statt Essen zur Emotionsregulierung einzusetzen, helfen alternative Wege: Achtsamkeitsübungen, Sport, kreative Tätigkeiten, Gespräche mit Vertrauten oder Entspannungstechniken.
4 Grenzen setzen und Selbstfürsorge stärken: Wenn das Gewicht als Schutz vor zu viel Nähe oder Erwartungen dient, lernen Sie, gesunde Grenzen zu setzen und Ihre Bedürfnisse klar zu kommunizieren. Stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl, indem Sie sich selbst die Liebe und Fürsorge geben, die Sie möglicherweise in der Kindheit vermisst haben.
5 Geduld und Selbstmitgefühl: Die Reise ist lang und erfordert Geduld. Es wird Rückschläge geben. Wichtig ist, sich nicht zu verurteilen, sondern mit Selbstmitgefühl auf sich selbst zu blicken. Jeder kleine Schritt in Richtung emotionaler Heilung ist ein Erfolg.