Macht Gemüse krank?

Ob Rheuma oder Diabetes: Für eine lange Reihe von Erkrankungen macht ein amerikanischer Arzt das Pflanzengift Lektin verantwortlich. Besonders gemein: Es versteckt sich im Gemüse, im Brot, in der Pasta.

Täglich Gemüse. Viel Obst. Vollkornprodukte. Rohkost. Seit Jahren gehen wir davon aus, dass wir uns auf diese Weise besonders gesund ernähren. Dass wir damit nicht übergewichtig werden. Und schon gar nicht krank.

Womöglich aber sind wir damit auch einem gefährlichen Irrtum aufgesessen. Zumindest teilweise.

Denn der US-Mediziner Steven R. Gundry (68), ein renommierter Herzchirurg und erfahrener Immunologe, behauptet jetzt: Gemüse ist böse! Es lässt unseren Blutdruck, unsere Zucker- und Cholesterinwerte steigen. Und es ist verantwortlich für zahlreiche Herz-Kreislauf- und Autoimmunkrankheiten.

Gundrys Buch «Böses Gemüse» ist ein internationaler Bestseller. Im amerikanischen Original heisst es «The Plant Paradox», und es ist tatsächlich paradox: Gemüse enthält doch so viele lebensnotwendige und gesundheitsfördernde Vitamine und Mineralstoffe. Wie soll es da ungesund sein? Vollkorn weist doch eine so hohe Nährstoffdichte auf. Wie kann es da gesundheitsschädigend sein?

Der Bösewicht Lektin

Hinter diesem Paradox stecken die sogenannten Lektine. Das sind Eiweisse, welche die Pflanzen entwickelt haben, um sich gegen ihre Fressfeinde zu schützen, sich ungehindert zu versamen und ihren Fortbestand zu sichern. Tiere, die in grossen Mengen Lektine zu sich nehmen, vertragen diese chemische Pflanzenabwehr nicht. Insekten etwa werden damit getötet oder wenigstens gelähmt. Auch wir Menschen kennen das: Grüne Kartoffeln oder rohe Bohnen sind ungeniessbar. Verantwortlich für ihre toxische Wirkung sind eben die Lektine. Beide Nahrungsmittel enthalten besonders viel davon.

Lektine sind keine Entdeckung der Neuzeit. Ihr bekanntester Vertreter ist Gluten. Es ist vor allem in Getreide enthalten und muss von vielen Menschen gemieden werden, weil es zu Entzündung der Dünndarmschleimhaut und zu Zöliakie führen kann. Gluten, das sogenannte Klebereiweiss, wird in der Nahrungsmittelherstellung für seine Bindungsfähigkeit geschätzt; es verleiht dem Essen Struktur und Konsistenz.

Und gerade diese Eigenschaft erklärt das Paradox der Pflanzen: Lektine sind ausgesprochen bindungsfreudig. Sie heften sich an Zuckermoleküle und verkleben mit Zellen und Gewebe, vor allem an den Darmwänden, die sie damit schädigen und durchlässig machen. Wichtige Nährstoffe, etwa aus der Gruppe der B-Vitamine, können vom Körper nicht mehr aufgenommen werden. Und schliesslich gelangen Lektine auf diesem Weg in den Blutkreislauf: Der Körper wehrt sich, attackiert die Lektine – und mit ihnen auch gesundes Gewebe und Organe.

Angriff auf den Körper

Einige Lektine greifen das Bindegewebe an, chronische Gelenkschmerzen können die Folge sein. Andere gehen auf die Nervenzellen und verursachen Konzentrationsschwäche. Dritte wiederum docken an den Insulin-Rezeptoren der Zellen an. Sind diese verstopft, nimmt die Zelle keinen Blutzucker mehr auf, es kommt zu Übergewicht, zu Diabetes. Die Liste der Krankheiten, die Dr. med. Steven Gundry mit Lektinen in Verbindung bringt, ist noch länger: Arthritis, Asthma, Alzheimer, Akne.

Gundrys Erkenntnis beruht auf einer Gruppe von rund 1000 Patienten, die an Herz-Kreislauf- oder Autoimmunkrankheiten litten. Unter seiner Aufsicht ernährten sie sich lektinfrei. Nach sechs Monaten hatten sich die Herz- und Blutwerte aller Teilnehmer deutlich verbessert.

Kochen wie früher

Lektinfrei heisst nicht Totalverzicht. In vielen Lebensmitteln lassen sich die Pflanzengifte durch die Zubereitung eliminieren oder zumindest stark reduzieren. Kartoffeln und weisser Reis durch Kochen im Dampfkochtopf. Linsen durch Einweichen. Tomaten durch Schälen und Entsamen. Nur beim Getreide funktioniert Hitze nicht, wohl aber Fermentation – Sauerteigbrot!

Ja, es sind die alten Zubereitungsmethoden, die unsere Vorfahren intuitiv anwendeten und die irgendwann in unserer hektischen und rationalisierten Zeit vergessen gingen. Wer weiss denn heute schon, dass Pomodori pelati, die wir alle als Grundvorrat im Hause haben, geschälte Tomaten bedeutet. Lektinfrei eben.

Buchtipp: Steven R. Gundry: «Böses Gemüse – Wie gesunde Nahrungsmittel uns krank machen», Beltz Verlag, Fr. 28.90

Was man essen darf – und was nicht!

  • Lektinreiche Lebensmittel, auf die Steven Gundry verzichtet: Brot, Reis, Getreide, Pasta, Bohnen und Hülsenfrüchte, Soja, Nachtschattengewächse wie Tomaten, Paprika, Auberginen und Kartoffeln, samenreiche Gemüse wie Gurken, Zucchini und Kürbis, Zucker, Cashewkerne, Erdnüsse usw.
  • Für die lektinfreie Ernährung geeignet sind: Wurzelgemüse, Oliven, Kastanien/Kastanienmehl, Kohlgemüse aller Art, Knoblauch, Zwiebeln, Baumnüsse, Haselnüsse, Ziegenkäse, Fleisch (nicht mehr als 125 g pro Tag), 1 Glas Rotwein pro Tag, dunkle Schokolade, die Süssstoffe Stevia oder Xylit usw.