Kurzschluss im Hirn ohne Vorwarnung

Ein Schlaganfall kann jeden treffen – auch in jüngeren Jahren. Das hat Bénédicte Boccanegra erlebt: Obwohl sie fit und schlank war, erlitt sie vier Hirninfarkte. Was sie gerettet hat, war sofortige Hilfe.

Vor drei Jahren wurde die zweifache Mutter Bénédicte Boccanegra (49) aus Hüttwilen TG unerwartet zur Witwe. Ihr Mann Ugo, ein 1,97 m grosser Mann, den nichts umhauen konnte, kollabierte an einem Sonntag frühmorgens. Er wurde mit dem Helikopter ins Kantonsspital St. Gallen geflogen. Doch jede medizinische Hilfe kam zu spät. Ugo verstarb wenige Stunden später an den Folgen einer Hirnblutung – im jungen Alter von 47 Jahren.

Drei Jahre lang ständig Stress

Für Bénédicte und ihre beiden Kinder musste der Alltag weitergehen – trotz tiefer Trauer. Der Ausfall von Ugo war nicht nur emotional eine grosse Herausforderung. Auch seine Arbeitskraft fiel weg. Für die diplomierte Dorntherapeutin und Farblicht-Expertin, die nicht nur Menschen, sondern auch Hunde und Pferde behandelt, begann eine Zeit grossen Stresses, der sie oft an ihre Grenzen brachte.

Ende April dieses Jahres passierte es: «Mittags ging ich nach der Arbeit in den Stall hinüber, um die beiden Pferde zuzudecken. Plötzlich wurde mir extrem schwindlig. Ich hielt mich an den Gitterstäben fest und liess mich langsam zu Boden gleiten. Dann war ich weg», erinnert sich Bénédicte. Die Pferde spürten offenbar, dass etwas nicht stimmte und versuchten ständig, sie zu wecken: Die Stute Dee Bar nuschelte in ihren Haaren, Conar stupste sie mit dem Hufeisen immer wieder sanft am Oberschenkel.

«Ohne die Pferde würde ich heute vermutlich nicht mehr leben», so die passionierte Reiterin. Nach rund 45 Minuten schaffte sie es, auf allen Vieren ins Haus zu kriechen. «Keine Ahnung, wie ich es schaffte, doch ich rief die nächste Kundin an, um den Termin abzusagen.» Diese merkte an Bénédictes Stimme, dass etwas nicht stimmte und fuhr gleich zu ihr, um sie in den Notfall zu bringen.

Kein typischer Fall

«Den zweiten Anfall hatte ich direkt vor dem Notfallarzt. Er realisierte es aber nicht, obwohl ich meinen Arm nicht mehr richtig heben konnte. Er meinte, es handle sich um einen Drehschwindelanfall – vermutlich als Folge eines neuen Medikamentes, das ich zuvor verschrieben bekommen hatte.» Er riet ihr, das Medikament abzusetzen und wieder nach Hause zu fahren. Dass er den Ernst der Situation nicht erkannte, lag daran, dass Bénédicte als schlanke und sportliche Person keine typische Schlaganfall-Patientin war.

Zwei Wochen später folgte der dritte Hirnschlag. «Morgens um 7 Uhr wurde mir wieder extrem schwindlig, und ich spürte, dass ich schnell handeln musste, bevor ich bewusstlos wurde.» Da ihre Tochter oben am Duschen war, rief sie ihren Sohn an, der im nächsten Dorf lebt. Als ihre Kinder sie rund zehn Minuten später fanden, konnte sie nicht mehr gehen. Und als sie im Kantonsspital Frauenfeld ankam, konnte sie auch nicht mehr reden und schlucken. Danach kann sie sich an nichts mehr erinnern. Der vierte Hirnschlag  erfolgte in der ersten Spitalnacht.

Üben, üben und nochmals üben

Nach zwei Wochen konnte sie das Spital verlassen. Sie beschloss, die Reha zu Hause zu machen – mit mobiler Physiotherapie. Bénédicte musste das Gehen wieder erlernen, ihr Gleichgewicht trainieren und ihre Sehkraft schärfen – mit fleissigem Üben. «Mir war es wichtig, mein Hirn ständig zu trainieren, da sich ‹kaputte› Hirnareale kompensieren lassen und unser Gehirn fehlende Bewegungen in einem anderen Hirnareal etablieren kann, wenn man genügend übt.» Sie kann ihren Alltag heute wieder bewältigen, leidet nur noch an Feinmotorik-Störungen in den Händen und im unteren Rücken. Deren Rückbildung kann bis zu zwei Jahre dauern. Der Neurologe wie auch der Physiotherapeut attestieren ihr eine «Bilderbuch-Heilung». «Ich fühle mich blendend und fit, wären da nicht die Nebenwirkungen gewisser Medikamente», so die stets aktive Frau.

25 Kilo zugenommen

Die Ärzte sind sich uneinig, was die Hirnschläge ausgelöst hat. Während die einen Stress als Ursache orten, nimmt ein anderer Arzt an, dass die Gefässe eventuell durch eine Autoimmunschwäche entzündet waren. Deshalb wurden ihr neben dem Blutverdünner auch hohe Kortisondosen verschrieben. Damit kann Bénédicte, die sich täglich viel bewegt, ihre Pferde ausreitet und auf die Ernährung achtet, wenig anfangen: «Wegen des Kortisons habe ich in den letzten vier Monaten 25 Kilo zugenommen! Am Schluss werde ich noch einen Herzinfarkt erleiden, weil ich so verfettet bin», meint sie lachend.