Krebs: Diagnose unheilbar – und jetzt?

Zu erfahren, dass man an Krebs erkrankt ist, rüttelt an den Grundfesten des Lebens. Die Psycho-Onkologin Sabine Lenz kümmert sich um Menschen in dieser Lage. Manche von ihnen haben schlechte Aussichten.
  
Sie kämpfen ums Überleben. Und wissen in vielen Fällen, dass sie diesen Kampf 
eigentlich bereits verloren haben. Wie kann man Menschen in dieser Situation weiterhelfen? Sabine Lenz ist Psychologin und berät am Kantonsspital Aarau seit Jahren Krebspatienten, die in 
dieser Situation sind. Über die 
Erfahrungen, die sie dabei gemacht hat, hat sie ein berührendes Buch geschrieben. Mit der GlücksPost spricht sie darüber.
   
GlücksPost: Frau Lenz, Ihr Buch heisst «Die Fähigkeit zu sterben». Sind alle Patienten, die zu Ihnen kommen, dem Tod geweiht? 
Sabine Lenz: Nein, es kommen auch Patienten mit einer guten Prognose, ebenso Angehörige, die auf ihre Art mitbetroffen, selbst aber gesund sind. In den zwölf 
Geschichten meines Buches sind aber tatsächlich die meisten dem Tod geweiht. Ich habe diese Auswahl bewusst getroffen, weil in Zusammenhang mit Krebs sehr viel über den Kampf gegen die Krankheit und den Glauben an Heilung geredet und geschrieben wird, aber das Gegenteil, dass Menschen auch sterben an Krebs, scheint weitgehend tabu zu sein.
  
Müssen wir das Sterben lernen?
Nein, so wie wir die Fähigkeit zu leben haben, so haben wir auch die Fähigkeit zu sterben. Es ist eine angeborene Fähigkeit, mit der alle Lebewesen auf die Welt kommen. Was man lernen kann, ist, mit 
dem Wissen um das eigene Sterben auf eine gute Art umzugehen. Darin begleite ich meine Patienten als Psychoonkologin, in ihrem 
seelischen Umgang mit der kürzer gewordenen Zeit.
  
Ist die Angst vor dem Sterben 
verständlich – und nötig?
Verständlich ist sie auf jeden Fall: Wenn wir sterben, ist es immer das erste Mal, und das Unbekannte kann grosse Angst machen. Auch der Abschied von allem, was man liebt auf Erden, ist etwas, was man glaubt, nicht bewältigen zu können. Nötig ist die Angst hingegen nicht. Sie lehrt einen nichts, sie 
ist keine Hilfe, im Gegenteil: Sie 
ist ein Hindernis, das den Weg schwerer macht, als er ist.
  
Kann man Menschen, die wissen, dass ihnen nicht mehr viel Zeit 
zum Leben bleibt, etwas mitgeben, das ihnen den Weg leichter macht?
Man kann ihnen sagen, dass sie sterben können, wenn es an der Zeit ist. Und dass es der Körper wissen wird, wann es für ihn Zeit ist zu sterben. Es ist ein körperlicher Prozess von Müdigkeit und Schwäche, mit dem das Geistige mitgeht. Wenn der Körper nicht mehr leben will, dann mag auch der Wille nicht mehr kämpfen.
  
Schreckt Sie selber die Vorstellung, sterben zu müssen?
Mich schreckt der Moment, in dem ein Arzt mir mitteilt, ich sei unheilbar erkrankt. Der Moment, in dem aus meinem abstrakten Wissen, dass mein Leben endlich ist, ein konkretes Wissen wird. 
In diesem Moment tickt die Uhr plötzlich sehr laut.
  
Sie sind Spezialistin für das Sterben. Können Sie auch jenen Menschen, die weiterleben dürfen, etwas mitgeben?
Ich bestärke sie in dem, was sie selbst wissen, wenn der Tod sie 
gestreift hat: Die Lebenszeit bleibt begrenzt, auch wenn man wieder gesund geworden ist. Wie ein Mensch in der Zeit, in der er auf der Welt ist, leben will, das ist ihm nach einer schweren Krankheit oft bewusster als vorher. Angesichts der Endlichkeit der Zeit können wir besser Wichtiges von 
Un­wichtigem unterscheiden, 
Vor­sätze in die Tat umsetzen, statt sie aufzuschieben, anderen so 
begegnen, dass man sich selbst treu bleibt dabei.
  
Umdenken heisst häufig ein 
Ratschlag, wenn jemand an Krebs erkrankt ist. Das Leben anders 
gestalten. Was halten Sie von 
solchen Ratschlägen?
Ich halte generell nicht viel von Ratschlägen. Schon gar nicht, wie man denken oder sein Leben gestalten soll, das ist etwas so Komplexes, das niemand einem anderen abnehmen kann. Ich glaube, die Ratschläge gegenüber Krebs­betroffenen sind eigentlich ein 
Reflex, die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit abzuwehren, die 
einen überfällt, wenn man einem fremden Schicksalsschlag begegnet. Andere können sich in Ratschläge flüchten, der Betroffene muss die Ohnmacht aushalten. Das trennt ihn oft schmerzlich von den anderen.
  
Wie soll man mit Menschen 
umgehen, die an einer lebens­bedrohenden Krankheit leiden?
Man sollte sich überlegen, ob 
dem Erkrankten die Frage «Wie geht es dir?» auch von vielen anderen gestellt wird. Dann kann 
es für ihn mühsam sein, jedem 
Einzelnen die gleiche Auskunft 
geben zu müssen. Manchmal ist 
es besser zu fragen: «Gibt es etwas, was ich für dich tun könnte?» Es kann auch willkommen sein, über ein ganz anderes Thema zu reden, Kranke haben ja nicht nur ihre Krankheit, sondern ebenso wie ihre Gesprächspartner ein Leben mit vielen Facetten. Und falls der Kranke gerade einen Rückschlag erlitten hat, dann eben keinen Ratschlag geben, sondern mit ihm aushalten, dass eine schwere körperliche Krankheit auch immer wieder Ohnmacht mit sich bringt. Oft gilt es, das, was ist, hinzunehmen und auszuhalten. Ohnmacht zu teilen, ist wahrscheinlich das Schwerste zwischen Menschen. Das weiss niemand so gut wie die allernächsten Angehörigen.
  
Haben Sie für sich aus den 
Begegnungen mit den Betroffenen 
etwas gelernt oder erfahren, 
was wichtig ist?
Ich habe gelernt, dass es nichts gibt, was man nicht bewältigt, wenn man keine andere Wahl hat. Und ich habe gelernt, dass alles, was man in Zusammenhang mit dem Tod denkt und glaubt, immer nur ein Ausdruck dessen ist, was man jetzt gerade dazu empfindet. Es wird sich auf jeden Fall verändern. Nach dem Erschrecken über eine schlimme Krankheitsdiagnose kommt eine Zeit, in der man 
damit leben gelernt hat, es kommt eine Zeit, in der man medizinische Behandlungserfahrungen macht wie Operation, Chemotherapie oder Bestrahlung, es kommt, wenn die Krankheit unheilbar ist, eine Zeit, in der man froh ist über 
die Möglichkeiten der Schmerz­bekämpfung, und es kommt eine Zeit, in der man müder und kraftloser wird und am Ende so müde und kraftlos ist, dass man das 
Leben hinter sich lassen möchte. Manchmal kommt es mir so vor, als werde man umso weiser, je schwächer man wird. Auf jeden Fall wird man sanfter, je mehr die Kraft zum Kämpfen nachlässt.