«Ich war eine Powerfrau»

Nach einer Infektion mit dem Coronavirus leiden Menschen oft noch längere Zeit an den für die Erkrankung typischen Symptomen. Diese Folgen werden als Long-Covid bezeichnet. Eine Be­troffene berichtet.

Im Frühling 2020 erkrankte Sandra Bigai an Covid-19, nur drei Tage nachdem der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» ausgerufen hatte. «Ich litt an trockenem Husten, Übelkeit und Geschmacksverlust.» Nach einigen Wochen fühlte sich die 53-jährige Kommunikationsfachfrau im Gesundheitsbereich zwar wieder besser, einige Symptome sind aber bis heute nicht verschwunden oder haben sich noch verstärkt. Zwar ist der Geruchs- und Geschmackssinn nach drei Monaten wieder zurückgekehrt, dafür haben sich starke Muskel- und Gliederschmerzen eingestellt. Seither ist Sandra Bigai keinen Tag mehr schmerzfrei und leidet unter ausgeprägter Müdigkeit und Erschöpfungszuständen. «Ich war vor der Infektion eine richtige Powerfrau. Wenn mir damals jemand gesagt hätte, dass ich für die Bewältigung des Alltags keine Energie mehr haben würde, hätte ich ihm das nie geglaubt.»

Beschwerden dauern an

So wie Sandra Bigai ergeht es relativ vielen Menschen, die eine Erkrankung mit dem SARS-CoV-2-Virus hinter sich haben. «Ich denke, dass 30 bis 40 Prozent der Betroffenen mit schweren Verläufen und 15 bis 20 Prozent der Betroffenen mit leichten Verläufen über mehr als drei Monate an Long-Covid-­Beschwerden leiden können», erklärt Milo Puhan, Professor für Epidemiologie an der Universität Zürich und Leiter des schweizweiten Forschungsprogramms «Corona Immunitas» der Swiss School of Public Health. In den ersten zwei Monaten nach der akuten Phase mit schwerem Verlauf können es sogar über 80 Prozent sein.

Müdigkeit und Erschöpfung

Aber auch Betroffene, die keine Symptome hatten, bleiben nicht von Long-Covid-Beschwerden verschont. Dazu können all jene Krankheitszeichen gehören, die meist bereits während der Covid-19-Erkrankung aufgetreten sind. Unter anderem sind dies übermässige Müdigkeit und Erschöpfung, Kopfschmerzen, Husten, Kurzatmigkeit oder Atembeschwerden, Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn, Beschwerden nach körperlicher Anstrengung und Muskelschmerzen.

Das Durchschnittsalter von Long-Covid-Patienten liegt bei 45 Jahren. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. «Dabei können Unterschiede im Immunsystem eine Rolle spielen.» Dazu kommt, dass Frauen Beschwerden besser spüren und auch eher darüber sprechen als Männer. Es gibt laut Milo Puhan Hinweise, dass Long-Covid häufiger auftritt, wenn Vorerkrankungen bestehen. «Gerade bei Asthma scheint sich dies zu bestätigen.»

Wie stark Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht oder Lungen-Erkrankungen auf den Langzeitverlauf eine Auswirkung haben, ist derzeit noch unsicher. Was hingegen als gesichert gilt, sind die Auswirkungen der Viruserkrankung auf das Herz-Kreislauf-System. «Dabei kann es zu Gefässschäden und einer erhöhten Gerinnungsneigung kommen», so der Arzt. Damit können auch Herzrhythmus-Störungen einhergehen. Ob das Herz durch die Infektion nachhaltig geschädigt wird, ist noch unklar. Als gesichert gelten zudem die psychischen Auswirkungen wie Depressionen und Ängste, die vor allem nach einer schweren Corona-Erkrankung auftreten können.

Seit dem Ausbruch der Pandemie sind noch keine zwei Jahre vergangen. «Dementsprechend ist es für viele Prognosen noch zu früh», hält Milo Puhan fest. Eines aber dürfte sicher sein: Bei den meisten Betroffenen verschwinden die Symptome früher oder später. «Es wird aber, wie bei anderen postviralen Syndromen, auch bei Long-­Covid Menschen geben, welche langfristig davon betroffen sind.»

Ressourcen einteilen lernen

Sandra Bigai ist seit April dieses Jahres zu 100 Prozent krankgeschrieben. Sie benötigt in ihrem Alltag viele Erholungsphasen und nimmt gegen ihre ausgeprägten Gelenk- und Muskelschmerzen starke Medikamente ein. Vor kurzer Zeit wurde sie in ein Reha-Programm aufgenommen, «wofür ich sehr dankbar bin». Dort lernt sie unter anderem, ihre energetischen Ressourcen so einzuteilen, dass es möglich ist, wenigstens ein paar Dinge täglich erledigen zu können. Wichtig ist ihr, dass alle von Long-Covid Betroffenen ernst genommen werden. «Denn psychosomatisch sind diese Beschwerden ganz sicher nicht.»

Netzwerk für Betroffene

Das Long-Covid-­Netzwerk Altea, das vom Verein Lunge Zürich initiiert worden ist, strebt eine Verbesserung der Situation von Per­sonen an, die von Long-Covid betroffen sind. Betroffene können sich im ­interaktiven Altea-Forum (www.­altea-community.com) mitein­ander sowie mit Ärztinnen und Ärzten, Therapeutinnen und ­Forschenden austauschen. Infos über www.altea-netzwerk.ch