
Wächst höher als Weizen, ist aber auch höherwertig: Dinkel ist das Urgetreide im deutschen Sprachraum.
Dinkel «gibt rechtes Blut»
Die Universalgelehrte Hildegard von Bingen (1098–1179) hat als Erste die Heilwirkung von Ringelblume und Arnika beschrieben. Populär ist sie heute auch für ihre Einschätzung der Getreideart Dinkel.
Von Serge Hediger
Wie wirken all die Kräuter? Wie heilen all die Edelsteine? Welche Eigenschaften auf die Gesundheit haben all die Metalle?
Wir schreiben das Jahr 1150, und die Person, die sich solch komplexe Fragen stellt, ist eine Frau der Kirche: Hildegard von Bingen. Die Gründerin eines Klosters in Rheinland-Pfalz (D) arbeitet am «Buch der einfachen Medizin», das erst nach ihrem Tod unter dem Titel «Physica» gedruckt wird. Sie notiert darin nicht einfach naturkundliche Betrachtungen von Pflanzen – vielmehr handelt sie darin die medizinische Brauchbarkeit, die Eignung oder Nichteignung für das körperliche Heil des Menschen ab. In 2400 Rezepten und Verwendungsvorschriften beschreibt sie die «Heilkräfte der geschaffenen Dinge des Kosmos».
Aus heutiger Sicht liegt Hildegard von Bingens grosse Leistung darin, dass sie das damalige Wissen über Krankheiten und Pflanzen aus der griechisch-lateinischen Tradition mit der Volksmedizin zusammenbrachte. Späte Ehrung erfuhr sie 2012, als Papst Benedikt sie zur Kirchenlehrerin erhob. Die benediktinische Ordensfrau, Mystikerin, Ärztin, Schriftstellerin und Komponistin gilt als eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters. Ihre Werke befassen sich mit Religion, Medizin, Musik, Ethik und Kosmologie. Wegen ihres visionären Glaubens und ihrer Lebensart war sie für viele Menschen eine Lehrerin, viele nannten sie schon zu Lebzeiten eine Heilige. Bis heute populär ist die «Hildegard-Medizin», ein Zweig der alternativen Medizin, mit Fokus auf Dinkel-Rezepten.
«Der Dinkel ist das beste Getreidekorn, es wirkt wärmend und fettend, ist hochwertig und gelinder als alle anderen Getreidekörner», schreibt sie. «Wer Dinkel isst, bildet gutes Fleisch. Dinkel führt zu einem rechten Blut, gibt ein aufgelockertes Gemüt und die Gabe des Frohsinns. Wie immer zubereitet Dinkel gegessen wird, als Brot oder als eine andere Speise gekocht, ist er mild und leicht verdaulich.»
In die heutige Sprache übersetzt bedeutete dies, wie es in einem schon etwas älteren «St. Hildegard Brief», der Zeitschrift der internationalen Hildegard-von-Bingen-Stiftung heisst: Dinkel wirkt durchblutungsfördernd, ist nahrhaft, gut verträglich und fördert die Entwicklung der Muskulatur. Er führt zu einem guten Blutbild, vermittelt eine fröhliche Stimmung und lässt sich vielseitig zubereiten.
Tatsächlich bestätigen neue Analysen die historische Sichtweise: Der ballaststoffreiche UrDinkel, wie das in der Schweiz zertifiziert angebaute «Chorn» heisst, hat im Gegensatz zu Weizen mehr essenzielle Aminosäuren, mehr Mineralstoffe und ein ausgewogeneres Fettsäuremuster zu bieten.
Sein Gehalt an Protein und Fett ist gegenüber anderen Getreidesorten wie Weizen deutlich erhöht. So liefert Dinkel seine Energie nicht nur in Form von Kohlenhydraten, sondern auch als Proteine und wertvolle Fettsäuren. Dank eines tiefen glykämischen Index-Wertes – vergleichbar mit dem von Rüebli – ist sein Sättigungsgefühl deutlich erhöht.
Vom Weiss- bis zum Vollkornmehl ist Dinkel schliesslich eine wichtige Mineralstoffquelle. Er hebt sich gegenüber Weizen besonders beim Zink- und Magnesiumgehalt ab. Magnesium ist ein Bestandteil von Knochen und Zähnen und spielt somit beim Skelettaufbau eine zentrale Rolle. Zudem ist Magnesium für den Energiestoffwechsel, die Enzym-, Nerven- und die Muskelfunktionen unerlässlich. Zink ist an vielen Stoffwechselprozessen und der Energiegewinnung beteiligt. Er ist notwendig für die Zellteilung, das Wachstum sowie für die Zellerneuerung.
«Die Gräslein können den Acker nicht begreifen, aus dem sie spriessen», lautet eines der vielen Hildegard-Zitate. Gut, hat sie das für uns übernommen – und uns ein Gräslein ganz besonders erklärt!