Der Selbstheilungsnerv

Stress wird heutzutage nicht nur durch äusserliche Faktoren wie Strassenlärm, Umweltkatastrophen, einen Verkehrsunfall, laute Musik von der Nachbarin oder lange Wartezeiten am Flugschalter ausgelöst. Zunehmend sind es auch innere Stressoren, die uns aus dem körperlichen und seelischen Gleichgewicht bringen. Wie unangenehme Angstgedanken, das Gefühl, nicht zu genügen oder depressive Gefühle. Manchmal sind es auch kurze Schockerlebnisse, wie etwa der Sturz von einer Leiter, die unser Nervensystem übermässig beanspruchen, ohne dass wir es realisieren. Fest steht: Irgendwann kommt man nicht mehr zur Ruhe, ist chronisch verspannt, schwitzt grundlos, leidet unter (wandernden) Schmerzen oder schläft schlecht.

Das Problem dabei ist: Da die Ursachen der Beschwerden im autonomen Nervensystem liegen, lassen sie sich nicht einfach über gut gemeinte Gespräche oder eine Psychotherapie auflösen. «So sehr sich der Patient und die Therapeutin auch bemühen, die Symptome wollen einfach nicht verschwinden», weiss die Osteopathin und Buchautorin Sandra Hintringer aus Erfahrung. «Oft behaupten Menschen, es sei alles okay mit ihnen, obwohl ihr Körper ganz andere Signale sendet».

Vagus: ein Nerv – zwei Äste

Um solche Dysbalancen auszugleichen und sich wieder besser zu fühlen, gibt es einen wirksamen inneren Helfer – den Vagusnerv. Der längste unserer zwölf Hirnnerven beeinflusst mit seinem weitverzweigten System zahlreiche unserer Organe. Er gilt als regulierende Schaltstelle zwischen dem Gehirn und den Organen. Als Teil des parasympathischen Nervensystems ist seine Aufgabe, für Erholung, Sicherheit, Ruhe und gute Verdauung zu sorgen. Was viele nicht wissen: Er lässt sich bewusst aktivieren.

Sandra Hintringer setzt dabei auf die Polyvagal-Theorie von Prof. Stephen Porges. Der Psychiater und Neurowissenschaftler fand heraus, dass der Vagusnerv aus zwei unterschiedlichen Ästen besteht. Der vordere, bauchseitige Vagus-Ast wirkt auf die Herz- und Atemfrequenz und steuert auch Muskeln im Hals und im Gesicht. Der hintere Vagus-Ast beeinflusst vor allem die Lungen und die Organe unterhalb des Zwerchfells. «Mit dieser Theorie wird neurophysiologisch verständlich, warum bestimmte Symptome und Verhaltensweisen einerseits überhaupt existieren und andererseits einfach nicht verschwinden
wollen.»

Den inneren Arzt aktivieren

Um den Vagusnerv, der sich vom Kopf bis zu den Eingeweiden zieht, wieder ins Lot zu bringen und die Selbstheilung zu aktivieren, gibt es zahlreiche Übungen, die verschiedenartig wirken. Sie helfen unter anderem
den Blutdruck und die Herzfrequenz zu senken
die Atmung zu vertiefen
die Verdauung anzuregen
die Muskelspannung zu reduzieren
das Immunsystem anzuregen
und chronische Schmerzen zu lindern.