Das sehnliche Warten auf den Mittwoch

Freiwillige Helferinnen und Helfer des Besuch- und Begleitdienstes vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) bringen Lebensfreude in den Alltag älterer Menschen – wie Charlotte Vanazzi aus Bern.

Die 85-jährige Charlotte Vanazzi liegt in ihrem Bett in einem Hochhaus in Bümpliz. Am Morgen kommt jemand von der Spitex vorbei, um sie zu waschen und anzukleiden und ihr das Frühstück und Mittagessen zuzubereiten. Am Abend, um ihr die Medikamente zu verabreichen und ihr das Nachthemd anzuziehen. «Ansonsten liege ich einfach da und bin mit mir allein», sagt die Rentnerin, die gehbehindert und bettlägerig ist. Weil sie nicht mehr versteht, was am Fernsehen geredet wird, fällt dieser Zeitvertreib weg. Lesen sagt ihr nichts. Oft ziehen sich die Tage endlos in die Länge. Ihr Mann Ugo ist vor drei Jahren verstorben. «I ha haut eifach Längizyti», sagt sie und drückt ein Kissen in Herzform an sich, welches auf der Vorderseite ein Bild von Ugo zeigt. 60 Jahre waren sie sehr glücklich verheiratet. «Ich möchte auch sterben können, da mein Leben eigentlich keines mehr ist», sagt die Rentnerin. Da sind nur Einsamkeit und ein endloses Warten.

Am Mittwoch kommt Besuch

Heute ist Mittwoch. An diesem Wochentag lebt Charlotte Vanazzi auf. Denn zwischen 14 und 16 Uhr kommt Corina Hugentobler zu Besuch. Die 28-Jährige arbeitet freiwillig für den Besuchs- und Begleitdienst des Schweizerischen Roten Kreuzes Kanton Bern, Region Mittelland. «Bei uns hat die Chemie sofort gestimmt», sagt sie und hilft Charlotte Vanazzi in den Rollstuhl. Einmal in der Woche kann die betagte Frau ihre Wohnung verlassen. «Wir gehen zusammen die Enten füttern, oder wir besuchen das Grab von Ugo. Das Zusammensein mit Charlotte gibt auch mir sehr viel», sagt Corina Hugentobler. Charlotte Vanazzi hat sich auf Anraten einer Spitex-Angestellten im Mai dieses Jahres an den Besuchs- und Begleitdienst des SRK Kanton Bern, Region Mittelland gewendet, damit sie wenigstens einmal in der Woche Gesellschaft hat und sich mit jemandem austauschen kann.

130 Freiwillige im Einsatz

«Wir besuchen vor allem einsame und alte Menschen, die oft aufgrund einer körperlichen Einschränkung nichts mehr unternehmen können», sagt Beatrice Gerber, Fachverantwortliche Besuchsdienst des SRK des Kantons Bern, Region Mittelland. Oft seien zwar noch Töchter und Söhne da. «Viele haben keine Zeit oder wollen sich diese für ihre betagten Eltern nicht nehmen.» Momentan betreuen 130 Freiwillige im Besucherdienst 120 Menschen zu Hause. «Allein im August dieses Jahres wurden 560 Stunden dafür aufgewendet», so Gerber. Der jüngste Freiwillige im Besucherdienst ist 20 Jahre alt, der älteste 82. «Unsere Freiwilligen kommen aus allen sozialen Schichten.» Was Beatrice Gerber besonders freut, ist der Umstand, dass in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg von ehrenamtlichen Helfern zu verzeichnen ist. «Auch viele junge Leute bieten sich an, ihre Zeit jemandem zu schenken, dessen Tage oft leer und unausgefüllt geworden sind.»

Ein Herz für andere Menschen haben

Spezielle Anforderungen an die Besucher und Besucherinnen werden nicht gestellt. «Sie müssen einfach ein Herz für andere Menschen haben», sagt Beatrice Gerber. Und sich emotional und praktisch abgrenzen können, was nicht immer einfach sei. Wenn beispielsweise eine über längere Zeit besuchte Person stirbt, ist dies «oft so schmerzhaft, wie wenn ein nahe stehender Verwandter gestorben wäre». In solchen Fällen stehen Fachleute des SRK den Freiwilligen zur Seite.

Ausgang trotz Nieselregen

Obwohl leichter Nieselregen fällt, geht es im Rollstuhl nach draussen. «Heute muss ich eine Viertelstunde früher gehen», sagt Corina Hugentobler mit einem entschuldigenden Schulterzucken, als die Ausfahrt beendet ist. «Aber bevor du gehst, muss ich dir noch einen Witz erzählen», sagt die Rentnerin. Und ganz kurz blitzt es in ihren Augen schelmisch auf, als sie noch einen vom «Müsli und Elefäntli» zum Besten gibt. Dann ist die Besuchszeit um. Corina Hugentobler geht hinaus in ihren geschäftigen Alltag. Charlotte Vanazzi sehnt bereits den nächsten Mittwoch herbei. Denn zwischen 14 und 16 Uhr kommt ihr geliebter Besuch. Bis dahin gilt es, im Bett darauf zu warten.

Editorial von Chefredaktor Leo Lüthy

«Ich möchte sterben können, da mein Leben eigentlich keines mehr ist», sagt die Rentnerin Charlotte Vanazzi (85) aus Bern. Eine Aussage, die mich betroffen und traurig macht. Es ist auch der Hilfeschrei einer betagten Frau, die gehbehindert und bettlägerig ist. «Ich liege einfach da und bin mit mir allein», erklärt sie weiter. Nur am Mittwoch bekommt ihr Leben für ganz kurze Zeit zwei Stunden sind es noch einen Sinn. Eine freiwillige Helferin des Schweizerischen Roten Kreuzes besucht Frau Vanazzi und schenkt ihr Zeit und Aufmerksamkeit (Seite 34).

Eine Aufgabe, welche ein grosses Herz für andere Menschen beweist und unser aller Respekt verdient. In meinem Heimatkanton wird am 16. November der NAB-Award für die Aargauerin oder den Aargauer des Jahres verliehen. Nominiert ist auch David Spielmann (41) aus Kölliken. Er hat seinen Job aufgegeben und schenkt einsamen Seniorinnen und Senioren als «Soulmen» seine Zeit. Meine Stimme hat der Mann. Aber wir alle sollten betagten Menschen, deren Tage oft leer und unausgefüllt sind, viel mehr Zeit schenken. Am besten fangen wir in der eigenen Familie an. Bevor es zu spät ist und gar keine Zeit mehr bleibt. 

Ich wünsche Ihnen mit der neuen GlücksPost eine unterhaltsame und gefreute Woche.