Cave-Syndrom: Angst, die eigene Höhle zu verlassen

Covid-19 bedroht nun auch die psychische Gesundheit: Weil sie befürchten, sich an­zustecken, wagen sich Menschen zu­nehmend kaum mehr aus dem Haus.

Müde, aber auch unsicher und ängstlich: Gemäss einer aktuellen Studie der American Psychological Association haben 46 Prozent der befragten Erwachsenen Bedenken, zu ihrem «vor-pandemischen Alltag» zurückzukehren. Medi­ziner bezeichnen diese Furcht als Cave-Syndrom (übersetzt: Höhlensyndrom). Trotz zwei- oder gar dreifacher Impfung trauen sich immer mehr Menschen auch hierzulande kaum mehr aus ihrer sicheren «Höhle» (englisch: cave) beziehungsweise Wohnung heraus, aus Angst, dass soziale Kontakte mit anderen ihre Gesundheit gefährden.

Einige Menschen konnten durch die Pandemie schöne und gute Erfahrungen machen, sich Tätigkeiten zuwenden, die sie bereichert haben. Andere wiederum haben sich isoliert gefühlt oder anderweitig gelitten, beispielsweise, weil es zu Hause zu eng wurde oder Begegnungen mit Gleichaltrigen, die gerade für junge Menschen sehr wichtig sind, nicht mehr möglich waren.

«Jenen Menschen, die es sich in der Pandemie gemütlich ein­­gerichtet haben, fehlt möglicher­weise die Motivation, sich wie-der hinauszubewegen», erklärt Jac­que­line Frossard, Fachpsychologin für Psychotherapie in Basel. Andere wiederum seien im auf­erlegten Rückzug unsicher geworden, ihnen fehle der Mut, wieder unter die Leute zu gehen und sich ausserhäuslichen Aktivitäten zuzuwenden.

Vorwiegend Junge betroffen

Frossard vermutet, dass vom Cave-Syndrom, das keine offizielle Diagnose darstellt, eher jüngere Menschen betroffen seien. Diese seien sozial noch weniger selbstsicher, aber auf zwischenmenschliche Kontakte speziell angewiesen. «Soziale Distanz ist in den letzten zwei Jahren zur Gewohnheit geworden.» Menschen, die schon vor der Pandemie ängstlich waren, hätten durch die Einschränkungen zwar eine Erleichterung erlebt, da sie sich den Anforderungen draussen weniger stellen mussten. «Leider ist diese anfängliche Entlastung aber trügerisch, denn danach fällt die Rückkehr in die Gesellschaft meist noch schwerer», so Jacqueline Frossard weiter. Das heisst: Die bereits entstandenen Ängste fallen zwar für eine gewisse Zeit weg, kehren dann aber umso heftiger zurück.

Ausdruck von Depressionen

Die Gefahr sei daher gross, dass sich Betroffene, die bereits im Vorfeld von Corona psychisch belastet waren, nun vermehrt zurückziehen. Einige Untersuchungen würden darauf hindeuten, dass der Suchtmittelkonsum sowie Depressionen in der Zeit der Corona-Pan­demie deutlich zugenommen hätten. Eine mögliche Ausdrucksform der Depression sei der soziale Rückzug, «das Verschwinden unter der warmen Bettdecke».

Um das Cave-Syndrom zu behandeln, muss primär die Angst vor der Angst überwunden werden. «Leider neigen wir alle dazu, Ängsten aus dem Weg zu gehen, was dazu führt, dass diese immer schlimmer werden», erklärt Jacqueline Frossard. «Wichtig ist es, durch die Angst hindurch­zugehen, statt sie zu vermeiden.» Daher sei es sinnvoll, sich Strategien zu überlegen, wie sich Dinge, die einem wichtig waren, zurückerobern lassen.

Dies kann schrittweise geschehen. «Hat man etwa Angst, an einer Feier mit vielen Menschen teilzunehmen, lädt man vielleicht zuerst einige Leute zu sich nach Hause ein.» Beim nächsten Mal könne man sich dann vornehmen, zwar an die Party zu gehen, sich aber das Recht zu nehmen, nach frühestens 15 Minuten wieder zu gehen, wenn es unangenehm wird. «Damit wird der Druck kalkulierbar und positive Begegnungen erhalten eine Chance.» Schliesslich gelte es aber, sich immer und immer wieder seinen Ängsten zu stellen und diese zu überwinden zu versuchen. Denn: «Training ist auch hier das A und O.»