Antidepressiva: ja oder nein?
Sackt die Stimmung tief in den Keller oder beeinträchtigten starke Angstgefühle den Alltag, können moderne Antidepressiva helfen. Die Frage ist nur: Wann sind sie sinnvoll – und wann nicht?
Die Coronakrise hat zahlreiche Menschen an ihre psychischen Grenzen gebracht. Nun ist es der Ukraine-Krieg und die damit verbundene Steigerung der Lebenskosten, die viele ängstigt und mit Sorgen umtreibt. Es sind schwierige Zeiten, die an den Nerven zehren können. Dies merken auch Psychiaterinnen und Psychologen, die aktuell stark ausgelastet sind. Einen Termin zu bekommen, ist schwierig. Deshalb wenden sich viele an ihren Hausarzt. Und der verschreibt – gut gemeint – schnell mal ein Antidepressivum, das die Stimmung verbessern oder Ängste lösen soll. Fragt sich nur: Wann macht es Sinn und wann nicht?
Steigt die Lebensqualität?
Tatsache ist: Vor kurzem kam eine grosse US-Analyse zum Schluss, dass es Depressiven mit und ohne Antidepressiva nach zwei Jahren ähnlich gut geht. Diese Forschungsergebnisse bedeuten nicht, dass die Medikamente per se nicht wirken und die Lebensqualität verbessern können. Es hat viel mehr damit zu tun, dass Depressionen meist episodisch verlaufen, und nach zwei Jahren ist eine Episode in der Regel vorbei – ob mit oder ohne Medikamente. Also: Antidepressiva schlucken oder nicht?
Dr. med. Dieter Trautmann, der seit über 30 Jahren als Psychiater und Psychotherapeut arbeitet, plädiert in seinem neuen Ratgeber (siehe Buchtipp) für einen sorgsameren Umgang mit den Psycho-Pillen, da sie teilweise starke Nebenwirkungen haben. «Ich bin kein genereller Gegner der Antidepressiva und deren Einnahme. Aber ich bin der Meinung, dass sie zu häufig, in zu hoher Dosis und viel zu lange verordnet werden», so der Fachmann. Sein Anliegen ist, aufzuzeigen, dass es auch andere Wege aus Krisen gibt, als einfach nur Glückspillen zu schlucken. «Es gibt fast immer einen guten Grund dafür, dass jemand depressiv ist – genau den gilt es anzupacken».
Alternativen zu Pillen
Trautmanns langjährige psychotherapeutische Erfahrung hat gezeigt, dass es fünf Bereiche gibt, in denen es möglich ist, auch selbst positive Veränderungen herbeizuführen, um aus einer depressiven Phase herauszukommen.
Die unbefriedigende Lebenssituation verändern, indem man sich beispielsweise überlegt, ob man sich vom Partner oder der Partnerin trennen, die Arbeit kündigen oder eine neue Wohnung suchen will. Was spricht dafür, was dagegen?
Lernen, alte, eingefahrene Denkmuster zu verändern. Grundsätzlich geht es darum, das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und zu lernen: «Ich bin okay so, wie ich bin».
Das eigene Verhalten ändern, damit sich auch die Gefühle verändern. Geht es einem nicht gut, haben wir die Tendenz, in diesen negativen Gefühlen zu verharren. Ein Hobby oder ein Sport, der Freude macht, weckt zwischendurch positive Gefühle. Und die gilt es, Schritt für Schritt, zu fördern.
Dem Körper Gutes tun. «Sport wirkt auf die gleichen Überträgerstoffe im Gehirn ein, wie auch Antidepressiva es tun», bringt Dieter Trautmann die etlichen wissenschaftlichen Studien auf den Punkt. Es muss nicht unbedingt anstrengend sein – auch fünf Minuten Morgengymnastik, eine Körpermassage oder ein Waldspaziergang erhöhen das Wohlbefinden.
Sich klar machen, wie man mit anderen Menschen umgehen kann, damit sie einem das geben, was man wirklich braucht.
Wie sich das umsetzen lässt, erklärt der Psychiater ausführlich in seinem Buch. Hilft das zu wenig, kann sich eine Psychotherapie lohnen. Auch wenn es momentan schwierig ist, einen Therapieplatz zu erhalten: Lassen Sie sich auf eine Warteliste setzen, falls dies möglich ist.
Wer braucht wirklich Medis?
Gibt es auch depressive Menschen, die ohne Medikamente nicht weiterkommen? «Dazu gibt es keine schlüssigen, wissenschaftlichen Studien», so Dr. med. Trautmann. Aufgrund seiner langen Erfahrung geht er davon aus, dass schätzungsweise fünf Prozent der Betroffenen eine vererbte Depressionsveranlagung haben. Diesem kleinen Anteil können Antidepressiva tatsächlich helfen.
Weshalb werden dann viel mehr Antidepressiva verschrieben? «Daran ist nicht nur die Pharma-Industrie schuld», so Psychiater Trautmann. «Es liegt auch daran, dass die Wissenschaft lange nicht in der Lage war, die verschiedenen Formen von Depression voneinander zu trennen». Ausserdem gäbe es nach wie vor noch nicht genügend Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. «Deshalb bleibt vielen Ärzten oft nichts anderes übrig, als depressive Patientinnen und Patienten zumindest zeitweise medikamentös zu behandeln.»