Allergiker können aufatmen

Wer mit Rindern aufwächst und in den ersten Lebensjahren natürliche Kuhmilch trinkt, leidet seltener an Allergien. Jetzt haben Ärzte den sogenannten Bauernhofschutz entschlüsselt und machen Allergikerinnen Hoffnung.

Als die Toggenburgerin Lisette Lutz im Jahr 1817 an Tuberkulose erkrankte, wagte ihr Arzt eine vollkommen neue Behandlung. Er brachte seine Patientin in einem Zimmer direkt über einem Kuhstall unter. Hier atmete Lisette Lutz Tag und Nacht durch 662 kleine runde Löcher, die eigens in die Decke gebohrt wurden, die Luft des Tierstalls ein. Nach vier Monaten verliess sie zum Erstaunen aller den stinkenden Raum als vollkommen geheilt!

Unter dem Fachbegriff Stabulation schrieb diese Behandlungsmethode im 19. Jahrhundert ein kurzes Kapitel Medizingeschichte – und ging schon bald als the­rapeutischer Irrweg unter.

Dennoch ist Landluft gesund! Aus zahlreichen Untersuchungen weiss man, dass sowohl das Aufwachsen auf einem Bauernhof als auch das Trinken von unver­arbeiteter, natürlicher Kuhmilch in den ersten Lebensjahren vor der Entwicklung sogenannter Immunglobuline  E schützt. Diese sind beim Menschen für allergische Symptome verantwortlich. Allergieforschende der Medizi­nischen Universität (MedUni) Wien konnten nun aufzeigen, dass ein bestimmtes, von Kühen abgesondertes Eiweiss den Schlüssel für den sogenannten Bauernhofschutz gegen Allergien darstellt: das Protein Beta-Laktoglobulin, das auch in der Milch vorkommt.

Das Schutz-Protein enthält in einer Art Tasche – Liganden genannt – weitere Inhaltsstoffe wie Eisen, Vitamin A, Zink sowie Pflanzenstoffe aus dem Kuhfutter. Diese sind die ideale Nahrung für Immunzellen sowie die vielfäl­tigen Bakterien der Darmflora, welche die Immunzellen trainiert und so die Abwehr stärkt.

«Die antiallergischen Eigenschaften von natürlichem Beta-­Laktoglobulin lassen sich damit erklären, dass dieses Protein seine Liganden gezielt zu den Immunabwehrzellen bringt und dadurch eine Entzündung verhindert», sagt die Forscherin Franziska Roth-Wal­ter von der MedUni Wien in einer Medienmitteilung. Umstände, die zu einem Verlust oder einem Mangel dieser Liganden führen – etwa durch die industrielle Milchverarbeitung oder mangelhafte Tierfutterqualität – können das gut verträgliche Milch­protein Beta-Laktoglobulin allerdings in ein Allergen verwandeln. «Un­sere Studie lässt hoffen, dass der Bauernhof-Allergieschutz-Effekt praktikabler gemacht und genutzt werden kann, um die Allergie­epidemie zu verhindern», sagt die Studienautorin Erika Jensen-Jarolim.

Bereits haben die Mediziner eine auf dem Bauernhofeffekt basierende Lutschtablette mit dem Molken-Protein entwickelt. Sie soll bei allergischer Rhinitis wie beispielsweise Heuschnupfen zum Einsatz kommen. Bei Betroffenen wird damit zum einen Eisen direkt an die Immunzellen transportiert, um den Eisenmangel auszugleichen. Zum anderen versorgt das Beta-Laktoglobulin Immunzellen zusätzlich mit den wichtigen Mikronährstoffen Zink und Vitamin A, was zu einem normalen Funktionieren des Immunsystems beiträgt.

Hintergrund der Forschungsarbeit ist die Tatsache, dass Allergien immer häufiger werden. Zu den Ursachen gehören vor allem unser industrialisierter Lebensstil, aber ebenso stark verarbeitete Lebensmittel und die Umweltverschmutzung. Im Jahr 1900 litt weniger als ein Prozent der Schweizer Bevölkerung an Allergien. Heute sind es ein Viertel bis ein Drittel, wie das Allergiezentrum Schweiz ermittelt hat.