Achtung Polymedikation!
Zu viele Medikamente können bei älteren Menschen gravierende Beschwerden auslösen. Wie aber lässt sich das Risiko einer Übermedikation minimieren?
Von Marie-Luce Le Febve de Vivy
Jeder kennt in seinem Umfeld Menschen, die so viele Medikamente einnehmen, dass man nicht mehr sicher sein kann, ob dies der Gesundheit dient oder nicht. Häufig verordnen Ärztinnen und Ärzte bei zusätzlichen Diagnosen weitere Arzneimittel, ohne zuvor zu fragen, welche Medikamente bereits eingenommen werden. Betroffen davon sind vor allem ältere Personen, die an mehreren chronischen Krankheiten leiden und täglich mehr als vier oder fünf Medikamente einnehmen sollen. Eine solche Polymedikation kann unerwünschte Reaktionen und Nebenwirkungen auslösen.
Dies hat den geriatrischen Pharmazeuten Matthias Kohlhof veranlasst, über viele Jahre die Fachinformationen von Arzneimitteln in eine Datenbank einfliessen zu lassen, um Medikationsrisiken bei älteren Menschen besser zu erkennen. Seine Erkenntnisse hat er nun in einem wertvollen Ratgeber zusammengefasst, der soeben erschienen ist (siehe Buchtipp).
GlücksPost: Heutzutage könnte jede seriöse Ärztin online die Wechselwirkungen von Medikamenten überprüfen. Weshalb kommt es dennoch zu unerwünschten Reaktionen bei einer Polymedikation?
Matthias Kohlhof: Gerade, weil so viele Medikamente verschrieben werden, ist es sehr schwierig, den Überblick über die Neben- und Wechselwirkungen zu behalten. Hinzu kommt, dass es Nebenwirkungen gibt, die sich innerhalb einer Medikation addieren und auf diese Weise das Beschwerdebild intensivieren. Die möglichen Wechselwirkungen der verwendeten Medikamente erhöhen sich um so mehr, je zahlreicher die Medikamente verschrieben werden. In dieser Situation die Übersicht zu bewahren, ist auch im digitalen Zeitalter enorm schwer. Ich selbst habe dafür eine spezielle Datenbank entwickelt, um einen schnellen und umfangreichen Überblick über Medikationsrisiken zu bekommen.
Bei welchen Medikamentengruppen sind die Risiken am höchsten?
Das Hirn älterer Menschen reagiert besonders sensibel auf Arzneimittel, die «zentralgängig» sind, die also das Hirn durch die Blutbahn erreichen. Das sind insbesondere Psychopharmaka, die zur Beruhigung, zur Förderung des Schlafes oder auch bei psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Ältere können bei permanenter Verwendung dieser Arzneimittel mit zentraler Dämpfung, Desorientierung oder Gedächtnisstörung reagieren.
Was sind die schlimmsten möglichen Nebenwirkungen?
Wenn Nebenwirkungen erst dadurch entstehen, dass mehrere Arzneimittel untereinander Wechselwirkungen zeigen. Dann kann beispielsweise die Möglichkeit bestehen, dass die Nierenbelastung deutlich ansteigt und ein mögliches akutes Nierenversagen eintritt. Andere Wechselwirkungen können sich zum Beispiel bei Diabetikern einstellen, wenn eine Unterzuckerung nicht bemerkt wird, weil ein Betablocker die Symptome einer Unterzuckerung überdeckt. Wieder andere Komplikationen können Betablocker bei Asthmapatientinnen erzeugen, weil sie bestimmte Asthmamittel, sogenannte Beta-Adrenergika, in ihrer Wirkung behindern und auf diese Weise die Asthmatherapie stark beeinträchtigen oder gar unwirksam machen können.
Woran erkenne ich als Angehörige oder als Pfleger, dass eine Übermedikation vorliegt?
Als Erstes sollten Pflegende bzw. Angehörige auf die Zahl der täglich angewendeten Medikamente achten. Ab einer Anzahl von fünf oder mehr Arzneimitteln pro Tag sprechen wir von Übermedikation. Es ist sinnvoll, frei verkäufliche Medikamente nur dann zu verwenden, wenn dies mit der Ärztin abgesprochen ist, sodass eine ärztliche Beurteilung vorliegt. Wenn noch mehr Medikamente verwendet werden, ist es ratsam, den Arzt zu fragen, ob jedem Medikament auch eine Diagnose zugeordnet werden kann und um welche Diagnosen es sich handelt. Denn: Oftmals erhalten übermedizierte Patienten Arzneimittel, die nicht oder nicht mehr nötig sind.
Was ist dann zu tun?
Das Wichtigste ist ein Arztgespräch auf Augenhöhe. Darauf kann man sich vorbereiten, indem man die beobachteten Beschwerden aufzeichnet. Auf die zeitliche Reihenfolge der Verordnungen hinzuweisen, ist ebenfalls sinnvoll. Bitten Sie die Ärztin, die Medikation anzupassen und zu prüfen, was eventuell nicht mehr nötig ist. Weitere Hinweise bietet mein Ratgeber.
Ihr wichtigster Tipp zum Schluss?
Im Alter ändern sich Diagnosen durchaus mal, keine Medikation sollte als «lebenslänglich» angesehen werden. Das bedeutet, dass eine Versorgung mit Medikamenten ständig ärztlich zu überprüfen ist. Und die Dosierung altersgerecht anzupassen ist.