
Evelyne Binsack, die heute im Berner Oberland lebt, blickt vom Pilatus aus auf ihre alte Heimat am Vierwaldstättersee.
Evelyne Binsack
«Es ist verrückt, dass ich das alles überlebt habe»
Ihre Expeditionen zum Mount Everest, zum Süd- und zum Nordpol machten sie weltberühmt. Mit der GlücksPost reist sie zurück zu ihren Wurzeln und verrät bei der Gelegenheit auch, weshalb sie keinen Partner mehr will.
Ein Berggipfel als Treffpunkt für ein Gespräch ist ungewöhnlich, nicht aber bei ihr: Die Extrem-Bergsteigerin Evelyne Binsack (58) schlägt den Pilatus vor, ihren einstigen Hausberg. «Ich komme joggend», schiebt sie nach.
Und während die Reporterin und der Fotograf in 30 Minuten gemächlich mit der steilsten Zahnradbahn der Welt von Alpnachstad OW auf den Berg tuckern, joggt Binsack vom selben Startpunkt aus in zwei Stunden vorbei an Wanderern, Bahn-Bauarbeitern und gesömmerten Kühen auf den über 2100 Meter hohen Luzerner Hausberg.
Oben angekommen, macht sie sich kurz frisch, und schon ist sie parat. Evelyne Binsack ist berühmt für ihre Expeditionen zu den drei Polen, die sie als erster Mensch mit eigener Muskelkraft erreichte: 2001 erklomm sie den Mount Everest, 2006/7 gelangte sie von daheim im Berner Oberland bis zum Südpol. Das bedeutete 25 000 Kilometer mit dem Fahrrad durch 16 Länder und 1600 Kilometer zu Fuss durch das Eis. 2016/17 schaffte sie es auf die gleiche Art bis an den Nordpol.
So unglaublich diese Leistungen sind – Evelyne Binsack hat in ihrem Leben viele weitere bemerkenswerte Sachen gemacht: zum Beispiel als Flughelferin das Berner Oberland von Sturmholz befreit, in Spanien als Helikopterpilotin Starkstromleitungen gewartet, einen Dokfilm über den Mount Everest gedreht oder als Co-Autorin drei Bücher über ihre Expeditionen geschrieben.
«Es war auch schmerzhaft»
Helikopter fliegt sie heute nicht mehr. Ihr Geld verdient sie primär als Referentin. Dabei erzählt sie von ihren Abenteuern und spricht über Themen wie Willenskraft oder Aufbruch zu Neuem. «Dank meinen Referaten komme ich viel herum und entdecke Neues», sagt sie.
Die 58-Jährige arbeitet zudem als Mental Coach und als Bergführerin. Seit neustem ist sie auch Hufbearbeiterin. Und das, ohne je ein «Pferdemeitli» gewesen zu sein. Ihr ehemaliger Lebenspartner hinterliess ihr den Vollblut-Traber Cador. «Ein Tier gibt man nicht einfach weg, nur weil die Beziehung zerbricht», meint sie. So begann sie, sich intensiv mit Pferden zu befassen. Um Kosten zu sparen, wollte sie deren «Fusspflege» selbst erlernen. «Bei der Hufbearbeitung geht es weniger um Mani- sowie Pediküre, sondern darum, dem Pferd dabei zu helfen, ohne Hufeisen wieder in seine natürliche Position zu kommen.»
Aufgewachsen in Hergiswil NW, lebt sie schon lange oberhalb von Meiringen BE. Ihr Heim teilt sie sich mit der Katze ihrer verstorbenen Mutter sowie einer weiteren ihr zugelaufenen Katze und mit dem erwähnten Hengst Cador. Ihre erste grosse Liebe hatte einst dafür gesorgt, dass sie im Oberland sesshaft geworden ist. Der Mann war ebenfalls Helikopterpilot und ist tragischerweise abgestürzt.
Es folgten weitere Beziehungen, die zerbrachen. «Als positiver Mensch hat man ja die Tendenz, alles schönzureden. Aber ich gebe zu: Es war auch schmerzhaft.» Sie habe aber aus jeder Beziehung viel lernen dürfen – auch über sich selbst. «Jetzt bin ich zu 100 Prozent glücklich. Ich habe gemerkt, dass ich eine sehr zufriedene Single-Person bin.» An einer Partnerschaft sei sie nicht mehr interessiert. «Das Gefühl von Freiheit will ich auf keinen Fall wieder aufgeben müssen.»
«Dem Herrgott dankbar sein»
In zehn Minuten erreicht man vom Pilatus aus den Aussichtspunkt «Esel». Von hier geniesst Evelyne Binsack den Blick über den Vierwaldstättersee. Sie erinnert sich an die Nachmittage als Schülerin, an denen der mächtige Pilatus das Sonnenbad in der Badi verhinderte, und an 1.-August-Nächte im Biwak auf dem Hängifeld mit Raketen und Höhenfeuer am Horizont.
Hie und da schweifen ihre Gedanken auch zum Dach der Welt. Weil sie in ihren Vorträgen immer wieder über ihre Besteigung des Mount Everest erzählt, bleibe diese sehr präsent. «Erst jetzt, mit 58, realisiere ich, was ich damals alles geleistet habe. Es ist verrückt, dass ich das alles überlebt habe.» Es sei sehr selten, dass nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche und das Mentale zu Höchstleistungen geführt werden können, und sie habe bei allen Komponenten das absolute Maximum herausgeholt. «Dafür kann ich dem Herrgott nur dankbar sein.»
«Ich bin sehr gläubig», sagt Binsack. «Ohne den Glauben hätte ich vieles nicht erreichen können.» Ihre katholische Mutter hat sie vor ihren Abenteuern stets gesegnet und ihr ein Fläschchen Weihwasser mitgegeben. Kam dieses zu Schaden, erreichte Binsack ihr Ziel nicht. Stehe sie auf einem Berggipfel, verspüre sie Kraft und könne auftanken. Allerdings geschehe dies nicht automatisch. An einem Tag wie diesem, wenn der Pilatus voller Touristen ist, fühle sie nichts. Frühmorgens oder an einem kalten Tag sei die Energie dafür intensiver. Dasselbe Gefühl spüre sie auch in Kirchen oder Klöstern.
Interessiert verfolgt Binsack, wie sich die Südtiroler Bergsteiger-Legende Reinhold Messner (80) zu Spiritualität und ähnlichen Themen äussert. «Messner ist für mich ein Vorbild. Schon als junger Mann konnte er sich sehr intelligent über unsere Leidenschaft, den Bergsport, artikulieren.»
Wie sieht sich Binsack, wenn sie einmal so alt ist, wie es Messner heute ist? Bei dieser Frage verweist sie an einen Freund, der mit 88 Jahren noch regelmässig klettert, das Leben mit Humor nimmt und für den der Tod kein Tabu ist. Und antwortet: «Ich sehe mich gesund, humorvoll und aktiv. Sonst sehe ich mich gar nicht.»
Evelyne Binsack treibt jeden Tag Sport. Zwei-, dreimal pro Woche rennt sie wie heute einen Berg hinauf. Doch jetzt hat sie ihr Soll erfüllt: Zurück ins Tal geht es gemeinsam mit dem GlücksPost-Team per Zahnradbahn.