
Von Sion aus über Schluchten und durch Tunnel bis nach Derborence.Der Chauffeur kann oberhalb der Strecke ein Rotlicht aktivieren, damit kein Gegenverkehr kommt.
Adrenalinkick im Postauto
Nur zehn Chauffeure dürfen die exponierteste Postauto-Linie der Schweiz befahren. Yvan Dubrit ist einer dieser Verwegenen. 400 Meter über dem Abgrund verrichtet er Präzisionsarbeit. Die Fahrt ist nichts für schwache Nerven.
Von Thomas Wälti
Pünktlich um 14.05 Uhr fährt der Bus 331 am Bahnhof in Sitten VS ab. Am Steuer sitzt Yvan Dubrit. Seit neun Jahren ist der 53-jährige Unterwalliser auf der exponiertesten Postauto-Linie der Schweiz unterwegs. Nur zehn kühne Chauffeure können diese atemberaubende Strecke vom Rhonetal hinauf in die Hochebene von Derborence bewältigen. An Bord befindet sich auch der GlücksPost-Autor, dessen Puls auf der etwas über eine Stunde dauernden Fahrt mehrmals in die Höhe schiesst, wenn er in den Abgrund blickt.
Das Postauto verlässt das Sittener Industriequartier. Die Hauptstrasse windet sich in sanften Kurven durch die Weinterrassen von Conthey nach Bourg, St-Séverin, Sensine, Erde und Aven. Wir entdecken einen Wegweiser: «Noch zwölf Kilometer bis Derborence». Die Strasse wird zunehmend enger. Nach 45 Minuten Fahrzeit erreicht Yvan Dubrit die Kapelle St-Bernard. Der Fahrgast verrichtet ein Stossgebet, denn ab jetzt wird’s richtig krass! Die nur noch einspurige Strasse führt entlang von Felswänden durch Tunnel und Galerien, der Blick vom Fenster in die über 400 Meter senkrecht abfallende Schlucht ist nichts für schwache Nerven.
Fingerspitzengefühl im Tunnel
Yvan Dubrit hingegen ist tiefenentspannt: «Ich habe gerade die Tunnel geleert. Wir haben freie Fahrt!» Per Handy aktivierte er zuvor weiter oben bei der Tunneleinfahrt ein Rotlicht, damit kein Gegenverkehr kommt. Der Romand benützt trotzdem das Dreiklanghorn, das furchteinflössend durch die Felsen hallt. Denn kreuzen kann er nicht. «Es kann gleichwohl vorkommen, dass mir jemand entgegenkommt. Viele Autofahrer geraten dann in Panik, wenn sie den gelben Riesen auf sich zurollen sehen. Der eine oder die andere hält dann auch schon mal an, statt den Rückwärtsgang einzulegen, steigt aus und übergibt mir völlig aufgelöst den Autoschlüssel, damit ich seinen beziehungsweise ihren Wagen aus der Gefahrenzone bringe», erzählt Yvan Dubrit, während ihm ein Lächeln über das Gesicht huscht.
Im Tunnel braucht Yvan Dubrit besonders viel Fingerspitzengefühl. Seine grösste Herausforderung: «Ich bringe die Passagiere sicher ans Ziel. Daher muss ich unterwegs genau wissen, wann ich in der Kurve das Steuer einschlage. Oft habe ich oben und seitlich nur fünf Zentimeter Platz, um den Bus durchzumanövrieren», sagt der Präzisionskünstler. Nach gut einer Stunde erreichen die fünf Tagesgäste den Lac de Derborence. Der furchtlose Chauffeur erhält Applaus für seine Fahrkünste. Und freut sich sichtbar.
Willkommen in der archaischen Bergwelt am Fuss des Diablerets-Massivs! Südlich des auf 1449 Meter über Meer gelegenen Sees erstreckt sich einer der letzten Urwälder der Schweiz. Die grössten Weisstannen sind 450 Jahre alt und über 40 Meter hoch. 1959, im Jahr, als PostAuto die Linie 331 in Betrieb genommen hat, kaufte Pro Natura 50 Hektar dieses Urwaldes, um den Schutz im Herzen des Gebiets zu verstärken. Seit 1961 ist Derborence ein kantonales Schutzgebiet. Zwei Felsstürze im 18. Jahrhundert haben die ehemaligen Weidegebiete in eine wilde Landschaft verwandelt. Darüber hat der Schweizer Dichter Charles-Ferdinand Ramuz den Roman «Derborence» geschrieben, der verfilmt wurde und 1985 in die Kinos kam. Über dem See thront das «Refuge du Lac de Derborence», wo Ausflügler regionale Spezialitäten geniessen und übernachten können.
Nicht der ultimative Adrenalinrausch
Yvan Dubrit nützt seine 90-minütige Ruhepause, um seinem Hobby nachzugehen: dem Schnitzen. Vor dem Bus der Marke Iveco Crossway – ein 11 Meter langes, 2,80 Meter breites und 3,45 Meter hohes Gefährt – hat er einen Klapptisch aufgestellt, um seine Holzskulpturen auszubreiten. Der gelernte Kältetechniker sagt: «Das Schnitzen entspannt mich nach einer hochkonzentrierten Fahrt.» Wobei: «Die durchwegs geteerte Postauto-Linie von Sion nach Derborence ist zwar anspruchsvoll, aber die ultimative Herausforderung ist sie nicht. Hinter dem Steuer eines Pistenbullys, Muldenkippers oder Baggers auf steilem und unebenem Untergrund ist der Adrenalinrausch um einiges grösser.»
Yvan Dubrit wohnt mit seiner Frau Stéphanie (47) in Mayens de Conthey VS. Das Paar hat zwei Kinder – Ysabelle (25) und Adrien (23) sowie zwei Grosskinder. In den neun Jahren auf der Linie 331, die er bislang rund 2000 Mal bewältigt hat, ist viel passiert: «Einmal löste ein Hagelsturm einen Murgang aus, sodass wir nicht mehr weiterfahren konnten und über zwei Stunden im Bus ausharren mussten», sagt Yvan Dubrit. Und einmal dachte er, ein Stein rolle vor ihm über die Strasse. «Dabei war es nur eine ausgebüxte Schildkröte!»
Die Linie nach Derborence ist, wenn die Witterung mitspielt, bis Ende Oktober in Betrieb. Dann ist das Naturschutzgebiet bis im April 2026 von der Umwelt abgeschnitten. Yvan Dubrit wird während dieser Zeit auf anderen Postauto-Linien unterwegs sein. Auf ganz gewöhnlichen.