
Roland, Erika und Erich Wyss (v. l.) von der Kapelle Schwyzergruess haben an einem Wochenende auch schon 20 Stunden lang musiziert.
Kapelle Schwyzergruess
Erika gibt mit 91 den Takt an
Die Familienkapelle aus Wilderswil BE gibt es schon seit 60 Jahren. Im Ausland warben sie einst für die Schweiz, und daheim spielten sie schon für Royals.
Von Andrea Butorin
Vier Wanderer bleiben stehen und zücken ihre Handys, als sich die Kapelle Schwyzergruess in Wilderswil BE in ihrer Tracht und mit Instrumenten zwischen die Gartenzwerge positioniert. Mehr Schweizer Idylle auf ein Bild zu bekommen, ist fast unmöglich: Da wäre die Familienkapelle Wyss, bestehend aus Erika (91) mit der Bassgeige, Erich (81) am Akkordeon und Sohn Roland (55) an der Klarinette. Rechter Hand das wettergegerbte Chalet Mönchsblick mit Baujahr 1863, in dem Erika und Erich wohnen und das herrlich mit Geranien geschmückt ist.
Diesen Herbst feiert die Familie das 60-jährige Bestehen ihrer Kapelle mit einem grossen Fest. Lange bangten Mutter und Sohn, wie es Erich dann gehen wird, denn beim pensionierten Installateur wurde kürzlich Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Nach sechs Wochen Spital und ebenso langer Reha erhielt er aber jetzt die erlösende Diagnose: Der Krebs ist überstanden. Noch leidet er sichtlich darunter, geschwächt zu sein: «Die Finger wollen beim Örgelen nicht mehr wie vorher», sagt er. Erika Wyss beschwichtigt: «Du brauchst Geduld!»
Mit seiner Handorgel steht Erich Wyss für die verlässliche Beständigkeit in der Kapelle Schwyzergruess. Denn seine Frau spielt längst nicht nur Kontrabass, sondern bei Bedarf auch Örgeli, sie «chlefelet» und jodelt. Früher spielte sie zudem Trompete in der Musikgesellschaft. Sohn Roland ist musikalisch ebenso flexibel und spielt nebst Klarinette auch Saxofon, Kontrabass, Klavier und jodelt und singt ebenfalls.
Mutter und Sohn sind auch abseits der Musik so vielseitig, dass einem schwindlig werden könnte. Geboren in Wattenwil BE, ist Erika Wyss im Luzernischen aufgewachsen. Nach der Lehre als Köchin führte sie ihr Weg nach Wilderswil ins Restaurant Heimat. «Im Dorf hiess es rasch: Du musst in die ‹Heimat›, da gibt es eine Serviererin, die jödelen kann. Da ging Erich seine Handorgel holen. Was hatten wir es lustig!» Mit viel Schalk erzählt die Frau, die man gut und gern 15 Jahre jünger schätzt, Anekdoten aus ihrem Leben. Später arbeitete sie als Küchenchefin bei der Schweizer Armee. In ihrer Freizeit arbeitete sie mit Schutz- und Sanitätshunden und konnte an einem Fest auch mal einen Räuber stellen.
Roland Wyss lebt mit seiner Partnerin in der Tourismus-Hochburg Lauterbrunnen. Der gelernte Postbeamte arbeitet als Kabinenführer bei der brandneuen Schilthornbahn. Bis vor kurzem war er 35 Jahre lang als Musiklehrer tätig. Er dirigiert den Jodlerklub Lauterbrunnen und ist Vizedirigent der Musikgesellschaft Lauterbrunnen. Maximal dreimal pro Monat moderiert er die Volksmusiksendung auf Radio Beo. Roland Wyss hat selbst rund 150 Stücke komponiert, in der Schublade lägen aber weit mehr, sagt er.
Königsfamilie wurde eingeschneit
Das Gründungsjahr der Kapelle Schwyzergruess ist mit einem Unglück verbunden. Denn eigentlich bestand sie schon vor 1965, und zwar als Familienkapelle aus Heimberg BE. Erika und Erich Wyss halfen da gelegentlich aus. Just am Tag, an dem ein Auftritt bevorstand, ist das verantwortliche Ehepaar tödlich verunglückt. Erika und Erich Wyss organisierten einen zusätzlichen Musikanten und zogen den Auftritt trotzdem durch. «Weil ich immer schon von einer eigenen Kapelle geträumt hatte, beschlossen wir, sie zu übernehmen», sagt Erika Wyss. Das war die Stunde Null für die Familienkapelle aus Wilderswil.
Als ehrgeiziger Jungmusikant ersetzte Roland den damaligen Klarinettisten so bald wie möglich. So vielseitig Wyssens bei den Instrumenten sind, so sind sie es auch beim Repertoire. Sie beherrschen Ländler- ebenso wie Tanzmusik. «Zwischendurch muss man das Publikum durchschütteln, und es sollte doch möglichst allen gefallen», sagt Erika Wyss. Nur ein Stück steht bei ihnen quasi auf dem Index: der Zillertaler Hochzeitsmarsch. «Wir haben schon zweimal erlebt, dass sich jemand beim wilden Tanzen ein Bein gebrochen hat», erklärt Roland Wyss.
Ihre Vielseitigkeit brachte die Kapelle, die insgesamt 8 CDs und 2 LPs herausgegeben hat, einige Male ins Fernsehen: So in die Sendungen von Wysel Gyr (1927–1999) und Kurt Zurfluh (1949–2017), letztmals 2014 gemeinsam mit Alphornistin Lisa Stoll (29). Für die zahlreichen Touristinnen und Touristen im Berner Oberland greift die Familienkapelle tief in die Folklorekiste: Wenn die Tourismusbüros zum Konzert einladen, schwingen sie Taler, «chlefele», «löffele» und jutzen. Ebenfalls in «touristischer Mission» ist die Familie Wyss durch ganz Europa gereist: Im Auftrag diverser Verkehrsvereine warben sie mit ihrer Musik für Ferien in der Schweiz. «Am schönsten war es in Irland, wo wir mit Einheimischen spontan zusammen musizierten», sagt Erika Wyss.
Für Roland Wyss wird eine ganz besondere Begegnung am Thunersee vor rund 30 Jahren unvergesslich bleiben: Ein Hotel hatte die Kapelle zum Spielen aufgeboten. «Als wir ankamen, war die Polizei da und durchsuchte unsere Koffer. Wir wussten nicht, was los ist, aber es kamen Gäste, und es hiess, wir sollten anfangen zu spielen.» Während des Spielens blickte er sich um und stiess auf bekannte Gesichter: Vor ihm sass die gesamte schwedische Königsfamilie, König Carl Gustaf (79), Königin Silvia (81) und deren drei damals noch kleinen Kinder Victoria (48), Carl Philip (46) und Madeleine (43). Sie waren auf dem Weg in die Skiferien in Zermatt eingeschneit worden, sodass sie spontan in Leissigen einquartiert und musikalisch unterhalten wurden. «Der König ist so ein fröhlicher Mensch und ist ständig mit den Kindern auf dem Boden umegschnaaget», erzählt Erika Wyss lachend.
Wie geht es nach dem grossen Jubiläumsfest mit der Kapelle weiter? «Wir hätten schon im Sinn, noch ein wenig zusammen zu musizieren», sagt Erika Wyss. Ihr Mann fügt an: «Ein Leben ohne Musik ist unvorstellbar.»