«Glück ist für mich ein relativ junges Gefühl»

In ihrem künstlerischen Schaffen verarbeitet die Sängerin Dinge, die sie in ihrem Leben geprägt haben – von selbstzerstörerischen Phasen bis zur der Hochsensibilität, die ihr Sohn geerbt hat.

Dieser Geruch! Und es sieht hier noch fast genauso aus wie damals.» Erinnerungen prasseln auf Jaël (43) ein, als wir sie in der Bibliothek neben dem einstigen Gäbelbach-Schulhaus in Bern-Bethlehem treffen. Hier hat sie als Mädchen die Schulbank gedrückt und viel Zeit in der «Biblere» verbracht. Diese war für sie Rückzugsort und Arbeitsplatz zugleich. «Ich habe hier als Schülerjob jahrelang geputzt», erzählt die Sängerin. «Ich sehe es direkt vor mir, wie ich staubsauge und ‹I Wanna Dance with Somebody› von Whitney Houston mitsinge.»

Der heutige Ausflug in die Vergangenheit ist dem «Sensibeli» geschuldet. Unter diesem Titel hat sie 2021 in Eigenregie ein Mundart-Album inklusive Bilderbuch geschaffen. Universal bringt die CD nun auf Hochdeutsch im gesamten deutschsprachigen Raum heraus. «Das kam total unerwartet und freut mich wahnsinnig», sagt Jaël, die der Bibliothek Buch und CDs als Geschenk überbringt.

Der kommerzielle Erfolg ist das eine, am meisten freut sich die ehemalige Lunik-Frontfrau aber über die Aufmerksamkeit, die ihr «Sensibeli» bzw. «Sensibelchen» bekommt. Das Werk dreht sich, kindgerecht verpackt, ums Thema «erhöhte Neurosensitivität». Die Bernerin wie auch ihr Sohn Eliah (5) sind sogenannt hochsensibel. Sie möchte Aufklärung leisten. Denn sie selbst litt darunter, ohne zu wissen, was mit ihr los war.

Die Hochsensibilität bringt als «Nebenwirkung» zwar oft grosse Kreativität und Empathie mit sich, hat aber auch schwierige Seiten. So werden Reize von aussen viel stärker und als unangenehm wahrgenommen. In das lebhafte, multikulturelle Hochhaus-Quartier, in dem sie aufwuchs, passte das «Ballett tanzende Finöggeli» daher nicht richtig hinein. Nebst dem Geräuschpegel – draussen und im Klassenzimmer – gab es viele vermeintliche Kleinigkeiten, die bei ihr zur Überreizung führten: sei
es das Anfassen der Kreide, die störende Druckstelle an der Socke oder der Geruch der Fluor-Zahnpasta beim jährlichen Zahnarzt­besuch in der Schule. Sie hatte
wenig Freunde, flüchtete sich oft in die Bibliothek, suchte Ruhe in den Büchern. «Als Kind denkst du da automatisch: Ich bin falsch, komisch, anders als die anderen», sagt Jaël, die im Song «IiTii» auf ihrem Doppel-Album «Midlife» das Gefühl, nicht auf diese Welt zu passen, beschreibt.

Bei ihrem Sohn, der ein Schreibaby war, habe sie Ähnlichkeiten zu ihrem Kindheitsverhalten bemerkt. «Dass er stark auf Trubel reagiert, voll und ganz in Phantasiewelten abtaucht und dann fast nicht mehr erreichbar ist, oder dass ihn schon feine körperliche Wahrnehmungen wie etwa ein Ohrendruck oder das Kratzen eines Zettels in der Kleidung fest stören», erklärt sie. «Darauf ver­suche ich einzugehen.» 

Ihre sieben Monate alte Tochter Liala sei da ganz anders. Dass ihr Sohn hochsensibel ist, bedauert sie aber nicht. «Er ist super, so wie er ist. Irgendwie ist es ja auch schön, wir haben einen besonderen Draht. Und: Der Berner Forscher Dr. Patrice Wyrsch schreibt in seinem Buch über eine Studie, die berichtet, dass Hochsensible in einem fördernden Umfeld zu Höhenflügen fähig sind.» Aber wie ist es für sie als Mami, hochsensibel zu sein? «Nicht ganz ohne, oft sehr herausfordernd. Aber nebst meinem Mann habe ich mir auch Unterstützung aus meinem Umfeld geholt – im Wissen, dass ich mehr Regenerationszeit brauche als andere, manchmal einfach zehn Minuten für mich benötige.»

Gelernt mit ihrer Hochsensibilität umzugehen, hat Jaël erst spät. Speziell die erste Hälfte ihres Lebens war von viel Traurigkeit, Melancholie und Enttäuschung geprägt. Was teilweise auch mit ihrer Hochsensibilität zu tun hatte. Sie litt an Depressionen, Panikattacken, verletzte sich selbst. Vom plötzlichen Erfolg von Lunik und dem Rummel um ihre Person war sie überfordert. «Zwischen 20 und 30 ist viel Selbstzerstörung in meinem Leben passiert», erzählt sie. Geholfen hat ihr immer schon, Songs darüber zu schreiben. Ihre neuesten sind auf dem aktuellen Album «Midlife» zu hören. «Fast jedes Lied behandelt ein Tabu-­Thema», sagt sie schmunzelnd. «Das war keine Absicht. Es war einfach der Moment da, wo ich es verarbeiten und darüber reden konnte. Und im besten Fall kann ich anderen das Gefühl vermitteln, dass sie nicht alleine sind.» Selbst einen sexuellen Übergriff, den sie erlebte, thematisiert Jaël. «Da hat es lange gebraucht, bis ich Frieden schliessen konnte. Vor allem weil ich gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte, diesen Impuls jedoch unterdrückte und mich damit in Gefahr brachte.» Sie habe es aber geschafft, das ins Positive zu wenden. Als Bestätigung, dass sie ihrer Intuition, die bei Hochsensiblen ausgeprägt ist, trauen kann.

In den letzten zehn Jahren sei viel Heilung passiert, und heute habe sie das Gefühl, angekommen zu sein – glücklich. «Das ist für mich ein relativ junges Gefühl»,
erzählt sie. «Diese Art von Glück, das man tief im Innersten empfindet – dass alles okay ist, es einem gut geht.» Der Album-Titel «Midlife» sei deshalb auf keinen Fall mit Midlife-Krise gleichzusetzen. Im Gegenteil. Sie fühle sich eher «mitten im Leben», voller Dankbarkeit und gelassener als früher. Die momentane Zeit sei vor allem von ihren Kindern geprägt. «Ich will ihnen ein gutes Mami sein, eine schöne Kindheit ermöglichen, damit sie zu sicheren Persönlichkeiten heranwachsen, die sich gestützt und umarmt fühlen in dieser Welt, die so hektisch und laut ist und nicht immer ein warmer Platz.»