Zu lange aufs Glück verzichtet

Mit diesem Mann an meiner Seite ist jeder Tag ein Geschenk», sagt Michaela (61) und kuschelt sich verliebt an ihren Sebastian (65). «Es ist schade, dass ich so lange auf dieses Glück verzichten musste.» Michaela und Sebastian verbindet eine grosse Liebe, die allerdings fast vier Jahrzehnte ein verstecktes Schattendasein führte.

Alles beginnt 1974. Damals macht die Hannoveranerin Michaela mit ihrer Mutter Ferien im spanischen Algarrobo Costa, einem idyllischen Badeort am Mittelmeer. Die Familie hat dort eine Wohnung. Doch an einem Sommertag verändert sich ihr Leben. «Ich habe auf einer Luftmatratze im warmen Mittelmeerwasser geplanscht, als mich ein einheimischer junger Mann angesprochen hat.» Sebastian, ein charmanter Spanier mit dunklen Locken und blitzenden Augen. «Ich war hin und weg, zumal er das schönste Lächeln hatte, das ich mir vorstellen konnte», erinnert sich Michaela. In diesem Sommer sind die beiden unzertrennlich. Sebastian arbeitet als Kellner, zeigt ihr die Schönheiten seiner Heimat, das leckere Essen, die tollen Strände. «Es war eine harmlose Urlaubsliebe, ein Teenieflirt, aber als ich zurück nach Hause musste, gab es einen tränenreichen Abschied, und wir haben uns versprochen, in Kontakt zu bleiben.»

Sie schreiben sich Briefe, Sebastian schickt Muscheln und Sand ins ferne Niedersachen. Die Entfernung kann der Liebe nichts anhaben, im Gegenteil, sie wächst; und als sich die beiden nach einem Jahr wieder in den Armen liegen, ist für Michaela klar: Das ist jetzt für immer. «Ich hatte nichts anderes in meinem Kopf, als mit Sebastian alt zu werden», weiss Michaela noch genau. Doch erst einmal muss sie etwas lernen. Sie lässt sich in ihrer deutschen Heimat zur Coiffeuse ausbilden, fliegt aber mehrmals im Jahr ans Mittelmeer, direkt in seine Arme.

Doch als sie 1979 mal wieder voller Sehnsucht aus dem Flugzeug steigt, erwartet sie ein Schock: Sebastian beichtet ihr, dass er eine schwangere Freundin hat und bald heiraten wird. «Es war ein Albtraum», erinnert sich Michaela. Zwei Jahre weint sie der Liebe nach, dann zieht sie den Schlussstrich und beginnt mit Martin, einem Ingenieur, ein neues Leben. Sie bekommt zwei Töchter, die Familie zieht in ein hübsches Haus und lebt ein Bilderbuchleben.

Wirklich? Michaela schüttelt rückblickend den Kopf. «Ich bekam Sebastian nie aus dem Herzen, und wenn ich in Spanien war, sind wir uns auch häufig auf der Strasse begegnet.» Doch beide sind verheiratet, haben Familie und lassen nichts weiter zu als ein paar nette Worte.

Das ändert sich 2015, als Michaela dahinterkommt, dass ihr Mann sie betrügt. Sie trennt sich sofort von ihm. «Damals, als es mir richtig dreckig ging, habe ich Sebastian geschrieben, dass ich mich scheiden lasse. Aber ohne Hintergedanken. Ich hatte keine Ahnung, dass er auch unglücklich war.» Das bekommt sie erst mit, als sie seine Antwort liest: «Ich gehe auch, weil ich dich immer geliebt habe.» Michaela ist jetzt verunsichert und braucht Abstand, um ihre Gefühle zu ordnen. Erst 2016 fliegt sie wieder nach Algarrobo. «Wir wollten uns wiedersehen und prüfen, was zwischen uns ist.»

Was kam, sei für sie beide überraschend gewesen. «Es war, als hätte es 42 Jahre nicht gegeben: die Vertrautheit, die Liebe – alles war wie damals.» Noch einmal wollen sie nicht auf ihr Lebensglück verzichten. Sebastian schenkt seiner Frau und den beiden erwachsenen Kindern reinen Wein ein und nimmt sich eine kleine Wohnung.

Michaela plant den Neustart an seiner Seite. Sie lernt in Deutschland Spanisch und macht eine Ausbildung zur medizinischen Fusspflegerin. Als sie Anfang 2017 auswandert, hat sie einen Plan in der Tasche. «Ich mache mich in Torrox-Costa selbständig.» Im November 2017 eröffnet sie in der Innenstadt ihren Salon «Barfuss» und erlebt ein kleines Wunder. «Das Geschäft lief von Anfang an prächtig, genauso wie die Liebe. Mein Entschluss, in Spanien neu anzufangen, brachte mir ganz offensichtlich Glück.»

2021 heiratet sie Sebastian, der als Sicherheitsmitarbeiter in einem Unternehmen arbeitet, und geniesst bis heute ihre Traumbeziehung mit ganzem Herzen. «Am meisten liebe ich, genau wie damals, sein Lachen», erzählt sie. Und er schwärmt: «Michaela ist meine Sonne. Ich habe einmal das Glück verspielt. Heute passe ich darauf auf, dass nichts und niemand mir diese Liebe wieder nimmt.»