Nadja Räss

«Jodeln ist unsere fünfte Landessprache»

Seit neuestem Unesco-Weltkulturerbe: «Mit Jodeln kann man die Menschen berühren», sagt Jodel-Professorin Nadja Räss aus Einsiedeln SZ, die plötzlich wegen ihrer Leidenschaft für den traditionellen Schweizer Gesang weltweit im Scheinwerferlicht steht.

Andrea Butorin

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Im Herbst ist Nadja Räss für ihr vielseitiges Enga­gement für das Jodelnmit dem ­Goldenen Violin­schlüssel ausgezeichnet worden – eine grosse Ehre für die ­Einsiedlerin. Amanda Nikolic

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In der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember war Jodlerin Nadja Räss (46) zu ­aufgeregt, um schlafen zu können. Am frühen Morgen ist im indischen Neu-­Delhi die frohe Botschaft verkündet worden: Ab sofort steht Jodeln auf der Liste des ­immateriellen Kulturerbes der Unesco. Wie bereits das Winzerfest in Vevey VD, die Basler Fasnacht oder die Alpsaison.
Drei Jahre lang hatte sich Nadja Räss in einer Arbeitsgruppe für diese Unesco-Kandidatur eingesetzt. Und so sass sie mit ihren Studierenden und einigen Weggefährten um fünf Uhr morgens vor dem Bildschirm, als der positive Bescheid aus Indien weltweit verkündet wurde. «Das ist für mich ein grosser Freudentag und fühlt sich an wie vorgezogene Weihnachten», sagt sie.
Denn im Leben der Einsiedlerin dreht sich praktisch alles ums Jodeln: Sie tritt solo und mit mehreren Formationen auf, dirigiert einen Jodelklub und gibt ihr Wissen und Können einerseits als Professorin an der Hochschule Luzern – und damit als einzige Jodel-Professorin der Schweiz – sowie als Privatlehrerin weiter.

Keine Opernkarriere

Unausgeschlafen, aber voller Euphorie beantwortet Nadja Räss am Tag des Entscheids die zahlreichen Medienanfragen: Leute der TV-Sender SRF und ZDF sind nach Kriens LU an die Hochschule gereist, um Räss zu inter­viewen und sie beim Unterricht mit ihren Studentinnen zu filmen; sie gibt dem ­hessischen und bayerischen Rundfunk ein Telefoninterview, und der Radiosender ABC Australia interviewt sie sogar in ­einer Live-Übertragung auf Englisch.
«Jodeln ist für mich unsere fünfte Landes­sprache», sagt die Schwyzerin, die schon als Kind ganz genau wusste, dass sie Jodlerin werden will. Weil man zu ihrer Zeit noch keine volksmusikalischen ­Fächer studieren konnte, entschied sie sich für eine klassische Gesangsausbildung. Mehrere Dozenten hätten sie nur aufnehmen wollen, wenn sie das Jodeln aufgegeben hätte, erzählt sie. Das kam für Räss aber nicht in Frage. Schliesslich fand sie doch noch eine ­Gesangsdozentin, die sie aus­bildete, ohne ihre wahre Leidenschaft auslöschen zu wollen. Nach dem Studienabschluss hätte ihr eine Opernkarriere offengestanden. Aber Nadja Räss wollte unverändert ­jodeln.

Sehr nah am Wasser gebaut

Was ist Jodeln überhaupt? Kurz gesagt ein Gesang, bei dem zwischen Brust- und Kopfstimme abgewechselt wird und bedeutungsfreie Silben gesungen werden, etwa «jo» oder «lo». Der Naturjodel hat ­keinen Text, beim Jodellied dagegen gibt es Liedstrophen mit einem Jodel-Refrain.
«Was beim Jodeln so berührt, sind die mitschwingenden Obertöne», sagt Nadja Räss, «mit dem Gesang kann man Bilder und Gefühle transportieren und die Menschen berühren.» Sie selbst sei sehr nah am Wasser gebaut: «Manche Menschen haben so schöne Stimmen, dass sie bloss den Mund aufmachen müssen, und ­meine Augen füllen sich mit Tränen.»

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Für Räss ist Jodeln ein idealer Ausgleich, um den Trubel des Weltgeschehens zu vergessen: «Es erdet, gibt einem ein ­Gemeinschaftsgefühl, und gleichzeitig pflegt man seine Wurzeln.» Das gemein­same Singen, einander zuhören und aufeinander eingehen fördere aber auch ­soziale Kompetenzen, die in der vom Smartphone dominierten Zeit etwas verloren ­gegangen seien, ergänzt die Pädagogin.

«Eine schöne Pendelbeziehung»

Dass sich ein Grossteil ihres Lebens ums Jodeln dreht, ist für Nadja Räss ein Geschenk und keine Last: «Was ich machen darf, erfüllt mich sehr.» Für ihre Verdienste ist sie im Herbst mit dem Goldenen Violinschlüssel ausgezeichnet worden, der höchsten Auszeichnung der Volksmusik-Szene. «Als dieser Anruf kam, war das eine riesige Freude», sagt sie. Ganz besonders deshalb, weil sie sich nun in die Reihe zahlreicher Jodlerinnen und Jodler einreihen könne, die sie als ihre Vorbilder bezeichnet. Etwa Marie-Theres von Gunten (74), Willi ­Valotti (76) oder Ruedi Renggli (73).
Was, wenn ihr eigenes Feuer plötzlich doch erlischt, und sie einen Ausgleich zum Jodeln braucht? Dann zieht es sie in die Natur. Besonders gern «kesselt» sie mit ­ihrem E-Bike durch die Gegend rund um Einsiedeln, wo sie aufgewachsen ist und heute wieder lebt. Ein weiteres Hobby von ihr ist das Schwyzerörgeli. Lange Zeit spielte sie dieses intensiv und gab sogar Unterricht. Weiter liebt es Nadja Räss zu kochen. Wichtig ist ihr auch das Zusammensein mit ihrer Familie und ihrem Partner. ­Dieser lebt in Luzern. «Wir führen eine schöne Pendelbeziehung», meint sie lachend.

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Nadja Räss hat keine Kinder, ist aber Tante von vier kleinen Nichten. Auch hier scheint ihr Jodelfeuer schon überge­gangen zu sein, denn eine der Nichten sei total Fan von ihr. «Trotzdem schätze ich es, bei ihnen in erster Linie das ‹Tante-Gotti› zu sein.»

«Im Chor bin ich einfach die Nadja»

Traditionell oder modern: Diese Frage stellt sich für Nadja Räss nicht. Ihr Repertoire ist schier unerschöpflich. An einem Jodlerfest bietet sie genauso gern tradi­tionellen Gesang dar, wie sie ihr Publikum im Duett Räss-Gabriel oder im Trio Pulkkinen-­Räss-Sadovska mit experimentellen ­Klängen verzaubert.
Traditionell, und doch offen für Neues ist auch «ihr» Jodelklub Waldstatt Echo aus Einsiedeln SZ. Räss leitet den Klub seit zehn Jahren und jodelt selber mit. «Ich schätze an diesem Chor, dass ich da einfach die Nadja bin, die Tochter von Franz, der auch mitsingt», sagt sie.
Früher, als sie als junge Jodlerin mit ­kurzen, roten Haaren auch mal mit neuen Melodien am Jodlerfest angetreten war, sei sie gelegentlich als Provokateurin wahr­genommen worden. «Dabei habe ich das nicht gemacht, um jemanden zu ver­ärgern. Sondern schlicht, weil es mir ge­fallen hat.» Heute stellt sie bei ihren Konzerten in den Kleintheatern dieses Landes fest, dass sie mittlerweile ein anderes ­Publikum erreicht als noch vor zehn ­Jahren: «Manche Menschen, die sich jetzt darauf einlassen, hätten früher beim ­Stichwort Jodel die Nase gerümpft.»

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Zwar stellt Nadja Räss beim Jodeln und der Volksmusik allgemein ­einen gewissen Boom fest. Es verhalte sich wie bei den Schwingfesten: «Plötzlich ist es fast schon ‹in›, an ein Jodler­fest zu gehen.» Doch es sei nach wie vor eher die Norm als die Ausnahme, dass Schweizer Kinder während ihrer gesamten Schulzeit nie mit dem Jodeln in Kontakt kämen. Und genau da wollen Räss und ihre Mitstreiter mit dem Projekt «Jodelndes Klassenzimmer» ansetzen. Hierfür, so hofft sie, könne die Unesco-Welterbe-­Liste ein Türöffner sein. «Denn bei der ­Aufnahme in die Liste geht es nicht darum, die Asche zu hüten, sondern das Feuer weiterzugeben.»

Die Zukunftswünsche

Dem Jodeln wünscht Nadja Räss für die Zukunft, dass all die Sämchen, die nun im Zuge der Unesco-Kandidatur gesät wurden, in Ruhe gedeihen können. Und auch, dass die verschiedenen Stellen, die des­wegen vermehrt zusammengearbeitet hätten, dies auch in Zukunft tun werden.
Für sich selbst hofft sie, dass sie all ihre verschiedenen Tätigkeiten auch weiterhin gut unter einen Hut bringt. «Ich hoffe, dass ich diesen Weg weitergehen kann, gesund bleibe und genügend Energie dafür habe.»
Nach dieser intensiven Zeit steht für Nadja Räss bald eine Auszeit an: Zusammen mit ihrem Partner will sie in Italien die «cucina italiana» testen, die italienische Küche, die gleichzeitig mit dem Jodeln Unesco-Kulturerbe geworden ist.

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