Im Schweizer Schützenmuseum Bern herrscht feierliche Stimmung: Nach monatelangem Umbau öffnet es wieder seine Türen. Höhepunkt des Tages ist der Besuch von Chiara Leone (27). Die Sportschützin übergibt dem Museum die Schiessbekleidung, in der sie 2024 in Paris beim 50-Meter-Dreistellungskampf Olympia-Gold gewann.
So festlich und unbeschwert alles wirkt – der Schein trügt. Zumindest bei Chiara Leone. Die Olympiasiegerin hat kein Aufgebot für die diesjährige Weltmeisterschaft erhalten und darf nicht mit nach Kairo, Ägypten, reisen. Doch die Aargauerin lässt sich nichts anmerken, im Gegenteil: Direkt nach der Übergabe eilt sie zielstrebig zum Bahnhof Bern, wo sie weiter nach Magglingen ins Training geht. Die GlücksPost begleitet die Top-Schützin ein Stück.
Verlorene Alltagsstruktur
Chiara Leone blickt aus dem Zugfenster und erinnert sich an den 2. August 2024, den Tag, an dem sie Olympia-Gold gewann. «Ein Traum ging für mich in Erfüllung», beginnt sie zu erzählen. Es ist der grösste Triumph in der Sportwelt. «Vor Olympia war mein Alltag mit strengen Trainingszeiten durchgetaktet.» Es bestand eine klare Struktur, jeden Morgen ein Grund aufzustehen, denn sie hatte ein klares Ziel vor Augen.
Den Olympia-Sieg konnte sie zunächst gar nicht fassen. Die grossen Glücksgefühle vermischten sich mit einer neuartigen Leere. Leones vertraute Alltagsstruktur fiel weg. Sie hatte kein Ziel mehr, kein durchgetaktetes Training – stattdessen viele Medienanfragen und das Interesse der Öffentlichkeit.
Dieser Wechsel war ermüdend. «Die wenige Energie nach dem Sieg wollte ich nicht ins Trainieren investieren», gesteht Leone. Sie empfand den Gang zum Schiessstand als sinnlos und wollte ihn meiden. «Darüber musste ich mit meinem Trainer gar nicht diskutieren.» Bei den Schweizer Meisterschaften, die einen Monat nach Olympia stattfanden, trat sie erst gar nicht an.
Chiara Leone wollte den Olympiasieg alleine verarbeiten und reiste für fünf Wochen nach Südamerika – an Orte, an denen sie niemanden kannte. Die Schweizerin lebte in einem kleinen Fischerdorf, erkundete den Regenwald und legte ihr Handy bewusst beiseite. «Ich liess mich auf die Umgebung ein, beobachtete die Vögel und konnte meine Gedanken besser verarbeiten», erzählt sie. Leone füllte ihren Kopf mit neuen Eindrücken abseits des Sports, lernte Spanisch und fand zu sich.
Zurück in der Schweiz musste die Schützin ihre Freude am Sport erst wiederentdecken. «Auf Top-Level fragt man sich irgendwann, was man überhaupt noch verbessern kann», erklärt sie. Es sei auslaugend, Neues auszuprobieren, denn bisher hatte ja alles immer funktioniert. Diese intensive Auseinandersetzung mit sich selbst verhinderte, dass sie schnell wieder in Top-Form kam. Doch Leone gab nicht auf, trainierte hart und kämpfte weiter. Die Arbeit zahlte sich aus: Bei der Europameisterschaft im vergangenen Juli belegte sie den vierten Platz. Ihr Saisonziel, die Qualifikation für die WM im November, blieb jedoch unerreicht.
Besser in Form als vor einem Jahr
«Eigentlich ist das ganz okay so», meint Chiara Leone trocken zur verpassten WM. Sie sieht das halb volle, nicht das halb leere Glas: «Jetzt besteht die Chance, intensiver zu trainieren.» Trotz des verpassten Ziels blickt sie positiv auf die Saison, die nicht ihre beste war, zurück. «Zum Teil bin ich besser in Form als vor einem Jahr.» Und schliesslich fehlte zur Weltmeisterschafts-Teilnahme nur wenig.
Zudem gab es privat ein kleines Highlight: «Das erste Mal seit Jahren habe ich meinen Geburtstag zu Hause in Frick gefeiert», verrät sie lächelnd. Leone wohnt aktuell ein Stück von ihren Wurzeln entfernt: In Biel, direkt neben dem Schiessstand. Die Zeit mit ihrer Familie geniesst sie, denn während jahrelangem Training kam diese oftmals zu kurz. Zudem schätzt sie es, die ein Trainingspensum von bis zu 30 Stunden pro Woche hat, einmal nicht über den Sport zu sprechen.
Chiara Leone ist eine Person, die nach vorne schaut, denn sie ist noch nicht am Ziel. Sie sucht nach der nächsten Herausforderung, bei der sie einen Volltreffer landen kann.