«Die Tränen fliessen, weil niemand da ist»

Wie die Rentnerin Eveline Harder die Einsamkeit kennenlernte – und wie sie dagegen ankämpft – und anderen hilft. 

Von Sandra Basan

In den vergangenen drei Jahren war Eveline Harder (81) auf 18 Beerdigungen. «Ich hatte ­einen grossen Freundeskreis», sagt die Berlinerin, «doch mittlerweile sind alle gestorben.»

Eveline Harder ist einsam. Wie sehr sie darunter leidet, können viele, vor allem ältere Menschen, nachempfinden: Bei der Rentner-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA in Deutschland gaben 29 Prozent der befragten Senioren an, sich zumindest gelegentlich allein und verlassen zu fühlen.

Ein Gefühl, das einen wie eine Krankheit überfällt, sagt Eveline Harder: «Das ist so eine innere Befindlichkeit, ein depressiver Anfall. Dann finde ich alles sinnlos und will morgens gar nicht aufstehen oder lesen, sondern habe einfach von allem die Schnauze voll. Ich koche zwar, doch dann sitze ich vor meinem Essen und mir laufen die Tränen runter, weil niemand da ist. Weihnachten ist besonders schlimm.»

Aber Eveline Harder lässt sich nicht unterkriegen, kämpft immer wieder gegen die Einsamkeit an. Zum ersten Mal im Jahr 1982: Damals starb ihr Mann Kurt-Peter an Krebs. Die Direktionsassistentin, die sowohl im Einkaufszentrum KaDeWe als auch bei der Deutschen Industriebank arbeitete, lenkte sich mit dem Beruf ab, gab Seminare für Frauen zu Themen wie Zeitmanagement oder Umgangsformen und machte sogar noch eine nebenberufliche Ausbildung zur Demenzbegleiterin.

«Doch auf meinen Mann durfte man mich nicht ansprechen. Wenn Musik von Bach oder Beethoven lief, brach ich zusammen. Auf die ‹Mondscheinsonate› reagiere ich heute noch», erzählt die kinder­lose Witwe.

Seit sie 2003 in Rente ging, gab es noch mehr einsame Momente zu bekämpfen. Das müsse man sich bewusst machen und aktiv angehen: «Man plant Einsamkeit ja nicht. Sie ist irgendwann da, und wenn man nicht aufpasst, versandet man in ihr.»

Eveline Harder gab auf sich acht, engagierte sich in verschiedenen Ehrenämtern, ging alle zwei Wochen ins Theater. Mit den Jahren sei es allerdings immer schwieriger geworden, jemanden zu finden, der die gleichen Interessen hat. «Man schliesst im Alter, wenn alle um einen herum schon weggestorben sind, auch nicht mehr so leicht Freundschaften.»

Auch das Kochen gibt ihr Kraft. Weil keiner mehr zum Essen kam, kochte sie jahrelang mittags für ihre krebskranke Nachbarin mit – bis diese im Juli 2021 starb. «Sie fehlt mir unheimlich. Hinter ihrer Wohnungstür ist kein Leben mehr – ein komisches Gefühl», sagt Eveline Harder. «Und ich muss jetzt immer darauf achten, dass ich nicht zu viel koche.»

Aber wie schon immer in ihrem Leben lässt Eveline Harder sich auch im Alter nicht unterkriegen. Sie hilft sogar anderen einsamen Menschen. Beim Telefondienst der Senioren-Hotline Silbernetz spricht sie einmal die Woche ehrenamtlich mit anderen älteren Menschen: «Einige erzählen, was sie beim Spaziergang gesehen ­haben, andere, wo es am Körper zwickt. Es sind oft belanglose ­Gespräche, wie man sie mit Nachbarn, Freunden oder dem Partner führt. Aber wenn man keinen hat? Niemand stellt sich vor den Spiegel, um das zu verbalisieren.» Manchmal spreche sie aber mit dem Foto ihrer Mutter. Sie starb im Jahr 1998.